Zum Verhältnis von Musik und Malerei in Vittore Carpaccios Vision des Heiligen Augustinus
Im gleichen Maße wie die Verschiedenheit von Musik und Malerei seit der Antike betont wurde, ist auch auf ihre enge Verbundenheit hingewiesen worden. Leonardo da Vinci bezeichnet die Musik als Schwester der Malerei („sorella della pittura“) und stellt die beiden Künste gleichberechtigt nebeneinander. Der Kunsttheoretiker Giovanni Paolo Lomazzo vergleicht im Jahr 1584 die Malerei mit einem Musikstück, in dem alle Töne gemeinsam eine Harmonie bilden. Und der venezianische Maler und Kupferstecher Marco Boschini versteht das gemalte Bild als ein „bel concerto“, das dem menschlichen Auge eine vollendete Harmonie eröffne („una armonia perfecta“).
Die Grundlage für einen Vergleich der beiden Künste schuf Leon Battista Alberti in seiner Schrift De re aedificatoria (1443–1452), in der er die Verwandtschaft der bildenden Künste mit der ars musica explizit hervorhebt. Der Vergleich ermöglichte, dass in Analogie zur bereits etablierten Skizze in der Malerei auch in der Musik der eigentliche Prozess des Komponierens als Ideenfindung in den Blick treten konnte. So entstanden etwa um das Jahr 1480 die „fantazies de Joskin“ des Josquin Desprez. Der Begriff „fantasia“ verweist auf ein erstes Konzept bzw. einen spontanen Entwurf, der einen Einblick in den kompositorischen Schaffensprozess ermöglicht. Zugleich zeigt sich hier die zunehmende Relevanz eines Wechselverhältnisses von inneren Vorstellungen und äußerer Gestaltnahme, die sowohl im kreativen Schaffensprozess als auch in der Rezeption von Kunst stets mitgedacht werden muss.
Leon Battista Albertis De re aedificatoria in einer Ausgabe von 1541 (@ Biblioteca Nacional de Portugal)
Trotz der engen Verwandtschaft zwischen den Künsten betont der italienische Dichter Giovan Battista Marino in seiner Galeria von 1620 auch die Grenzen der Malerei, indem er auf die Undarstellbarkeit von Stimmen in diesem Medium verweist. Erschwerend kam für die Kunstschaffenden hinzu, dass sich in der christlichen Kunst Musik und Klang nur schwerlich vom Göttlichen und somit dem per se Undarstellbaren lösen ließ. Nach christlicher Vorstellung priesen ganze Engelschöre unaufhörlich den Herrn und seine Schöpfung. Die christliche Heilsgeschichte ist somit andauernd von himmlischem Klang begleitet, der den Menschen allerdings vorenthalten bleibt. Einige Legenden, wie etwa die der Heiligen Cäcilia, erzählen von einer Vision dieser göttlichen Musik. Aber wie lässt sich ein Einbruch wundersamer Stimmen oder himmlischer Musik ins Irdische im Medium der Malerei darstellen?
In dem Gemälde Die Verzückung der Heiligen Cäcilia von 1514 reagiert Raffael auf das Dilemma einer Darstellung des eigentlich Nichtdarstellbaren mit einer Übersetzung in räumliche Strukturen. Während zu den Füßen einer Gruppe von Heiligen im unteren, weltlichen Bereich Musikinstrumente achtlos auf dem Boden ausgestreut sind, wird die Vision des göttlichen Klangs mit einem Engelschor im oberen Bereich des Bildes dargestellt. In einer geöffneten Wolkendecke wird eine Schar Engel sichtbar, die sich mit vor ihnen ausgebreiteten Büchern dem Gesang hingeben. Ein helles, nahezu gleißendes Licht deutet die himmlische Sphäre an, in der sie sich befinden. Die Heilige Cäcilia hebt ihren Blick nach oben, unbemerkt von ihrer Umgebung. Nur ihr ist es vergönnt, den Lobgesang zu hören.
Einen bemerkenswerten Vorstoß, die himmlischen Klänge ins Weltliche zu übertragen, unternimmt der Maler Vittore Carpaccio in der Scuola di San Giorgio degli Schiavoni in Venedig. Carpaccio begegnet in seiner Vision des Heiligen Augustinus (1502) dem Problem einer Darstellung des Nichtdarstellbaren, wie der Kunsthistoriker Victor Stoichita bemerkt, „auf eine geistige, rein intellektuelle Weise, die klar von […] anderen Versuchen abweicht, in denen der Klang durch eine bildliche Darstellung visualisiert wurde“. Stattdessen nutzt er den äußeren und inneren Effekt von Malerei und Musik auf den Betrachter, um Immaterielles und Übersinnliches erfahrbar zu machen.
Das Gemälde mit der Darstellung des Heiligen Augustinus ist Bestandteil eines Zyklus, der von den venezianischen Dalmatinern (den schiavoni) zur Ehre ihres Schutzpatrons, dem Heiligen Hieronymus, in Auftrag gegeben worden war. Helen I. Roberts konnte nachweisen, dass sich die dargestellte Szene auf einen apokryphen Brief des Augustinus an Cyrillus, den Patriarchen von Jerusalem, beruft. In diesem Schreiben berichtet Augustinus von einer Schwellenerfahrung, die ihm genau zum Zeitpunkt des Todes des Hieronymus im Jahr 420 widerfahren sein soll.
Ausgangspunkt der Schwellenerfahrung ist ein Brief, den Augustinus an den Heiligen Hieronymus verfasst haben soll. In diesem bittet er seinen geistlichen Mentor um Rat über eine Abhandlung zur Seligkeit der Seelen. Kaum habe er mit dem Schreiben begonnen, als plötzlich Licht in sein Zimmer fällt, ein süßer Geruch die Stube erfüllt und die Stimme des Hieronymus ertönt. Das kommunikative Verhältnis verlässt also die Ebene der Schriftlichkeit und gibt einer übersinnlichen und multisensuellen Erfahrung Raum. Bevor Hieronymus seinen eigenen Tod und seine Himmelfahrt zu Christus verkündet, rügt er Augustinus für seine Vermessenheit, die Geheimnisse der himmlischen Glückseligkeit verstehen zu wollen:
„Augustinus, Augustinus, was erbittest du? […] Glaubst du, diese Dinge zu sehen: die kein Mensch jemals sehen noch verstehen konnte? Und das zu hören, wovon jemals weder gehört noch geträumt wurde? Und das zu verstehen, was von keinem menschlichen Herz je verstanden noch gedacht werden kann. Wie nun glaubst du, es verstehen zu können?“
Doch auch wenn Hieronymus den Heiligen Augustinus tadelt, so gewährt er ihm doch eine Antwort von nicht zu unterschätzender Relevanz. Indem Hieronymus sein Ableben und seine Aufnahme in den Himmel beschreibt, eröffnet er Augustinus einen Blick in himmlische Gefilde. Hieronymus berichtet von seiner Seele, die „zur Stunde den armseligen Leib in Bethlehem in Judäa verlassen [hat], begleitet von Christus, dem Sohn des triumphierenden Gottes, und vom gesamten himmlischen Hofstaat: geschmückt mit heller und strahlender Schönheit: gekleidet in das vergoldete Gewand der Unsterblichkeit.“
Die geheimnisvolle Stimme ist also die glückliche Seele des Hieronymus selbst. Carpaccio inszeniert sie als eine leuchtende, duftende Substanz, die kraftvoll und dynamisch in den Raum fließt und dort ihre Präsenz verbreitet. Die vom Schreibpult gewehten Bücher und Blätter zeugen von der Kraft und Dynamik der pneumatischen Erscheinung, die hier als realer Windhauch Gestalt annimmt. Wie als zusätzlicher Beweis ihrer Existenz reckt der kleine wachsame Hund im linken Bildfeld seine Nase aufmerksam in die Richtung der Licht- und Duftquelle. In ihrer pneumatischen Präsenz berichtet die Stimme Augustinus nun vom eigentlichen Wesen der himmlischen Existenz, die darin bestehe, das Göttliche mit Gesängen immerwährend zu preisen: „Und mit dieser Herrlichkeit gehe ich ins Himmelreich, wo ich ewig bleiben und mit den anderen Heiligen singen und jubilieren muss.“
Dieser Passus ist entscheidend, da er den im Bild nicht wahrnehmbaren Klang der Stimme des Hieronymus zusätzlich noch um die Unverfügbarkeit des himmlischen Jubels und Gesangs steigert. Neben der Wahrnehmung des geheimnisvollen Dufts werden somit auch der Seh- und Hörsinn zu wesentlichen Elementen des Bildthemas. Zwei Musikschriftstücke am rechten unteren Bildrand verstärken diesen Eindruck noch. Ein aufgeschlagenes Musikbuch, das eine vierstimmige Komposition zeigt und ein aufgefaltetes Einzelblatt mit einer dreistimmigen, untextierten Komposition, wenden sich ostentativ an die Betrachtenden des Bildes. Wie in der Darstellung des eigentlich nicht Darstellbaren in der Form des Lichts, so inszeniert Carpaccio auch die Ebene des Klangs an der Grenze zwischen den Wahrnehmungsebenen, hier zwischen dem Sicht- und Hörbaren. Die Wahrnehmung der Musik vollzieht sich allerdings nicht im äußeren Medium, sondern im Inneren des Betrachters.
Die Grundlage hierfür findet sich im Traktat De Musica des Augustinus, das im intellektuellen Milieu Venedigs des frühen 16. Jahrhunderts wohlbekannt war. Im 6. Buch des Traktats heißt es:
„Denn im Denken können wir für uns selbst, auch wenn wir schweigen, beliebige Rhythmen vollziehen – und zwar in ebendem Zeitrahmen, in dem sie auch von der Stimme vollzogen würden. Es ist offenbar, daß sich diese Rhythmen in einer gewissen Tätigkeit des Geistes befinden, die keinen Klang verursacht, also in den Ohren keine Empfindung hervorruft und somit deutlich macht, daß diese Art ohne jene beiden sein kann, von denen sich die eine im Klang befindet, die andere im Hörenden, wenn er hört […].“
Die Musikpartituren zeigen sich den Betrachtenden und regen sie zu einer inneren Rekonstruktion der Melodie an. Auf die gleiche Weise wie Augustinus die Stimme des Hieronymus vernimmt, muss die Musik als ein in der Imagination generierter und mit dem inneren Ohr gehörter Klang gedacht werden.
Es findet sich noch ein weiteres Element im Bild, das auf die himmlische Musik anspielt. Im rechten Bildfeld befindet sich vor dem Fenster hängend eine Armillarsphäre. Sie verweist auf den Klang der Planeten und die Harmonie der Sphären. Einmal in Bewegung versetzt, bringt dieser Mechanismus eine immerwährende Musik, musica perennis, hervor. Boethius spricht in seinem um 500 entstandenen Traktat De institutione musica von einer musica mundana als Widerhall einer überweltlichen und außerhalb des wahrnehmbaren Klanges existierenden musica caelestis. In Analogie produziert die musica mundana eine musica humana, die mit der inneren Harmonie der Seele identisch ist. Ähnlich wie das Licht, das der Mensch zwar zum Sehen benötigt, es als solches aber nicht mehr wahrnehmen kann, ist es den Menschen nicht vergönnt, das himmlische Tönen der Sphärenharmonie zu vernehmen.
In der Vision des Heiligen Augustinus verweist sie auf das intrinsische Ordnungsverhältnis der himmlischen Sphären, das Harmonie und ideale Proportion bedeutet. In der Malerei Carpaccios scheint der Gedanke an ideale Maßverhältnisse Albertis Vergleich der Musik mit den bildenden Künsten wieder aufzugreifen. Die Armillarsphäre ist das Maß, mit dem der Heilige Augustinus in der Malerei „die unermesslichen Dinge“ zu messen gedenkt. Es steht für die Bemühung, das himmlische Unhörbare erfahrbar zu machen.
Es ist der Einbruch des Göttlichen ins Irdische, den Carpaccio mit seiner Malerei einzufangen suchte und deren Wahrnehmung er als ein wechselseitiges Verhältnis zwischen verschiedenen Sinnesebenen inszeniert. Der Schlüssel liegt gerade in der Betonung der Paradoxa, mit dem er das Dilemma des eigentlich Nicht-Wahrnehmbaren aufzulösen sucht. Die Erfahrung der „canti inauditi de la gloria delle anime beate“, der unhörbaren Gesänge der glücklichen Seele, wird über das Paradox einer stillen Musik dargestellt. Das Nicht-Sichtbare kann mittels des Lichts und über die Kraft und Dynamik des körperlosen Pneumas im Bild als himmlische Präsenz wahrgenommen werden.
Diese Vergegenwärtigung des Flüchtigen, Immateriellen und Unkörperlichen hat weitreichende Konsequenzen. Indem die Malerei Dingen eine Gestalt verleiht, „die kein Mensch jemals sehen noch verstehen konnte“ und das hörbar werden lässt, „wovon jemals weder gehört noch geträumt wurde“, gewährt sie eine Erfahrung dessen, worum der Heilige Augustinus zu bitten gewagt hatte: In einem Wechselspiel von Musik, Klang und Malerei eröffnet sich dem Menschen in Carpaccios Vision des Heiligen Ausgustinus ein kurzer Einblick in die Seligkeit der Seelen.
Jenny Körber studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Literaturwissenschaft in Münster, Paris und Amsterdam und war 2017 Junior Research Fellow an der Harvard University. Ihre Dissertation zum Mediendispositiv der frühen Jesuiten erscheint im Böhlau Verlag. Derzeit ist sie für die Staatlichen Museen zu Berlin als Projektkuratorin tätig.
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