Das Fehlen jeglicher Diskussion über mögliche Verbindungen zwischen Musik und den anderen Künsten hat mich schon immer gewundert. Es ist, als wäre Musik eine Spezialistinnen und Spezialisten vorbehaltene Sprache, die von normalen Menschen nicht verstanden werden kann, was dazu führt, dass Musikerinnen und Musiker ständig als exzentrische Außenseiter behandelt werden. Musik wird oft als eine Kunst für sich angesehen, aber immerhin bleibt sie, sofern es sich um weltliche Musik handelt, sich selbst überlassen, ohne trivialisiert zu werden. Kirchenmusikerinnen und -musiker dagegen haben das Problem, sich den üblicherweise ignoranten Forderungen des Klerus beugen müssen, der sie in gewisser Weise „besitzt“ und in ein Schattendasein – auf der Orgelempore oder im Chorraum – verbannt, aus dem sie regelmäßig auftauchen, um sich als Diener der neuesten Gottesdienstmode anzupassen.
Vor diesem Hintergrund hebt sich Josquin des Prez als ungewöhnliche und inspirierende historische Figur umso stärker ab. Zu seiner Zeit war es vollkommen unüblich, dass ein professioneller Musiker finanziell unabhängig von vermögenden Mäzenen war, zu denen so gut wie immer die Kirche gehörte: Er war vermutlich der erste Musiker überhaupt, der ein Leben jenseits dieses Systems führte. Es gibt zahlreiche Zeitzeugnisse, die belegen, dass er ging, wohin es ihm gefiel, dass er verlangte, was er wollte, und dass er Dummheit wohl nicht ausstehen konnte. Vermutlich war er nicht besonders beliebt: Schon die Tatsache, dass er zwei derart grandiose Messvertonungen auf Grundlage der „Lʼhomme armé“-Melodie schrieb, muss viele seiner Kollegen irritiert haben, die sich abmühten, auch nur eine halbwegs brauchbare zu Stande zu bringen; dennoch war seine Anziehungskraft so groß, dass jeder ihn bei sich haben wollte.
Hat sich Josquin jemals mit Leonardo da Vinci getroffen, um über Technik zu diskutieren?
Kein Wunder, dass diese beispiellose geistige Unabhängigkeit zu einzigartiger, visionärer Musik führte. Dennoch gibt es trotz Josquins offensichtlichen Selbstbewusstseins keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass er daran interessiert gewesen wäre, die Blockade zu überwinden, die die Musik so lange von den übrigen Künsten trennte. Vielleicht hat er sich ja mit dem Herzog von Mailand zum Kartenspielen zusammengesetzt (wie es die Überlieferung seiner Missa Di dadi nahelegt), aber hat er sich jemals mit Leonardo da Vinci getroffen, um über Technik zu diskutieren? Es wäre interessant gewesen, ein solches Gespräch zu belauschen und darüber zu berichten. Und hat sich Palestrina jemals mit Michelangelo unterhalten, nachdem sie beide jahrelang im Vatikan gearbeitet haben und sich vom Sehen und dem Namen nach gut gekannt haben müssten? Oder Shakespeare mit Byrd im London des frühen 17. Jahrhunderts? Sie beschränkten sich anscheinend aus Gewohnheit auf das Leben in ihrer eigenen Blase; und es liegt womöglich an dieser Blockade, dass die Musik bei der Umsetzung der neuen ästhetischen Ideen, die von den bildenden Künsten vorangetrieben wurden, regelmäßig hinterherhinkte. Josquin wäre von seinem Temperament und seinem Ansehen her ausgesprochen gut dafür gerüstet gewesen, diesen Rückstand aufzuholen. Vielleicht hat er sich darum bemüht und dabei lediglich herausgefunden, dass Musik nicht nur als unverständlich galt, sondern auch als zu altmodisch, um für einen Maler oder Dichter interessant zu sein, der sich auf der Höhe seiner Zeit befand. Meine Vermutung ist allerdings, dass er gar nicht auf die Idee kam, es zu versuchen.
Die Person, von der ich mir am meisten wünschte, dass er sie getroffen und sich mit ihr ausgetauscht hätte, ist Filippo Brunelleschi. Dies war leider schon deshalb unmöglich, weil Brunelleschi, der Architekt der berühmten cupola von Santa Maria del Fiore in Florenz, bereits 1446 starb, also bevor Josquin geboren wurde. Doch dieser Gedankenaustausch wäre sicher faszinierend gewesen, denn Brunelleschi war der erste bildende Künstler, der damit experimentierte, Mathematik zur Beherrschung des Raums einzusetzen, sei es zweidimensional auf der Leinwand oder dreidimensional in Gebäuden. Vor ihm war in der Malerei mindestens zwei Jahrhunderte lang versucht worden, die dreidimensionale Welt realitätsgetreu darzustellen: eine Entwicklung, die von den flächigen Arbeiten der byzantinisch geprägten Meister über den instinktiven Gebrauch der Perspektive durch Künstler wie Cimabue und später Giotto verlief, bis die Schule von Siena diese Auffassung bis zum Äußersten ausreizte.
Das war eine vollkommen neue, auf genauesten Messungen basierende Art, den Bildraum zu organisieren.
Jetzt brauchte es Struktur statt inspiriertem „Pi mal Daumen“. Brunelleschis Spiel mit Rastern, Umkehrbildern und Spiegeln vor dem Baptisterium von Santa Maria del Fiore und dem benachbarten Palazzo Vecchio im frühen 15. Jahrhundert brachte schließlich genau die theoretische Grundlage hervor, die die intuitive Perspektive in das überführen konnte, was man heute Linearperspektive nennt. Nichts in der Malerei vor ihm war in der Lage gewesen, ein Bild wie Masaccios Trinità-Fresko in der Florentiner Kirche Santa Maria Novella hervorzubringen. Das war eine vollkommen neue, auf genauesten Messungen basierende Art, den Bildraum zu organisieren. Wie nicht anders zu erwarten, wurden Brunelleschis Entdeckungen bald weiterentwickelt; und ich möchte behaupten, dass Josquin auf irgendeiner Ebene bewusst oder unbewusst von ihm beeinflusst war.
Die Entwicklungsverzögerung der Musik hat lange den Eindruck bestärkt, dass sie nicht ganz auf der Höhe ihrer Zeit sei, wenngleich rückblickend sichtbar wird, dass sie sehr wohl die gleichen Denkprozesse durchlief, nur eben in ihrem eigenen Rahmen. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Josquin oder Brunelleschi in der Lage gewesen wären, dies zu durchschauen, obwohl Josquin, als er mit dem Komponieren begann, künstlerisch genau dort stand, wo Brunelleschi sich etwa 75 Jahre zuvor befand, als er seine berufliche Tätigkeit aufnahm. Sie hatten beide Stile ererbt, die um eine breitere Wirkung kämpften und noch in Gesten verhaftet waren, die dem spätmittelalterlichen Denken entstammten – allesamt gut erforscht und zur Zeit der Geburt dieser beiden Männer bereits abgenutzt.
In beiden Kunstformen war es allein die Schärfe des mathematischen Hintergrunds, die die Betrachter tief in das Bild hineinführen konnte, sei es visuell oder auditiv.
Betrachtet man die Gemälde, die Josquin in seiner Jugend in Flandern oder auf seinen Reisen in Italien gesehen haben könnte, genauer, stellt man fest, dass das musikalische Äquivalent der malerischen Perspektive die sogenannte Imitation in den Stimmen eines Choralsatzes ist. Wie die bildenden Künstler des 14. Jahrhunderts bei ihren Darstellungen der Welt mit einer näherungsweisen Anordnung begannen (intuitive Perspektive), setzte Josquin zunächst eine ungefähre Imitation ein, wobei er nicht immer alle Stimmen einbezog und das Verfahren häufig nur in der Oktave und im Unisono verwendete, während in seinen letzten Werken und denen seiner Nachfolger für die vollständige Wirkung auch die Quinte erforderlich war. Und wie Brunelleschi erkannte, dass nur die exakteste Mathematik das abzubilden vermochte, was man als kompromisslose Schärfentiefe bezeichnen könnte, feilte Josquin an seinen mathematischen Fähigkeiten, um eine strenge Imitation mit allen Stimmen komponieren zu können. In beiden Kunstformen war es allein die Schärfe des mathematischen Hintergrunds, die den Betrachter tief in das Bild hineinführen konnte, sei es visuell oder auditiv.
In der Musik gab es kein Moment, das so prägend gewesen wäre wie Brunelleschis Regeln der Linearperspektive, aber solche Regeln hatte sie auch gar nicht nötig. In seinen Messen entwickelte Josquin die Imitation weiter, bis bei den letzten Messevertonungen die gewünschte Schärfentiefe sichergestellt war. Im musikhistorischen Zusammenhang waren Josquins Entdeckungen ähnlich einflussreich wie die Brunelleschis in der Kunsttheorie, und sie wurden von seinen unzähligen „Schülern“ übergangslos weitergeführt, insbesondere von Adrian Willaert, Clemens non Papa und Nicolas Gombert. Doch auch wenn Musikerinnen und Musiker nicht so sehr dazu neigen, sich lautstark über ihre innovativen Methoden auszulassen, wie ihre Kolleginnen und Kollegen in der bildenden Kunst – außer sie heißen Claudio Monteverdi –, war Josquins Rolle bei dieser Humanisierung und Demokratisierung der musikalischen Sprache von entscheidender Bedeutung für alles, was in der Hochrenaissance folgte. Palestrinas fließender, klangvoller Stil wäre ohne ihn nicht möglich gewesen, ebenso wenig wie Raffaels äußerst präzise und raffinierte Entwürfe ohne die Neuerungen von Brunelleschi.
Aber auch hier hinkte die Musik Palestrinas der Kunst Raffaels 75 Jahre hinterher. Von heute aus lässt sich erkennen, dass sie grundsätzlich die gleiche Richtung einschlugen, obwohl sie selber diese auch dann, wenn sie sich begegnet wären, nicht hätten benennen können. Besonders was einen Punkt betrifft, bedaure ich diese Ungleichzeitigkeit. Möglicherweise hatte Josquin ja die Gelegenheit, die Pazzi-Kapelle in Florenz zu besuchen, als er in Italien arbeitete. Jedenfalls hätte ich mir gewünscht, dass ihr Architekt Brunelleschi ihn durch die neu errichtete Kapelle – sie wurde 1443 fertiggestellt – geführt und auf seine Reaktion gewartet hätte. Für mich sind die Harmonie und die Proportionen dieser Kapelle die perfekte Umgebung für die Art von Musik, die Josquin den größten Teil seines Lebens schrieb: Sie ist klein, von einem raffinierten Verständnis für Proportionen durchdrungen, harmonisch bis in den letzten Winkel, leicht und luftig.
Stattdessen geht man seit Langem davon aus, dass für die Aufführung von Renaissance-Polyphonie am besten Gebäude aus dem Mittelalter geeignet sind. Doch warum? Gotische Kathedralen sind riesig, oft verwinkelt und können einschüchternd und dunkel sein; und zumindest in der frühen Zeit des Experimentierens mit ihnen wurden sie mit so wenig mathematischen Grundkenntnissen errichtet, dass sie überkonstruiert waren, um zusätzliche Sicherheit vor Unglücken zu bieten. Einer der Gründe ist wohl, dass in der Renaissancezeit kaum religiöse Gebäude errichtet wurden, nicht zuletzt weil es schon sehr viele gotische Kirchen gab. Musik wurde für das Singen in Gottesdiensten geschrieben, und die Gottesdienste fanden üblicherweise in gotischen Innenräumen statt. Meiner Meinung nach haben wir uns nie von der Geisteshaltung gelöst, die dieser historische Zufall mit sich brachte. Wir sind praktisch darauf geeicht, die Polyphonie nicht als das zu verstehen, was sie tatsächlich ist, sondern sie als eine Begleiterscheinung der gotischen Welt zu hören.
Die Aussicht, Josquins Musik in einem Gebäude gesungen zu hören, das von einem guten Renaissance-Architekten entworfen wurde, versetzt mich nach wie vor in Entzücken. Moderne Interpretinnen und Interpreten mögen ihr Bestes tun, um dem Publikum mit ihrem Gesang zu vermitteln, wie leicht, klangvoll, spielerisch und logisch konstruiert diese Musik ist, doch sie in einem Gebäude zu erleben, das nach den gleichen kreativen Prinzipien entworfen wurde, wäre eine Offenbarung. Das Einzige, was ich tun kann, ist zu zeigen, inwieweit die Linearperspektive sowohl die Musik als auch die Architektur geprägt hat, obwohl sie 75 Jahre auseinanderliegen. Wenn der kulturelle Kontext ihren führenden Geistern erlaubt hätte, sich über ihre Inspirationsquellen auszutauschen, hätten sie sicherlich die Ähnlichkeiten erkannt und auf ihnen aufgebaut. Nachdem sie das nicht getan haben, bleibt uns nur, ihre getrennten Entwicklungen im Rückblick nachzuzeichnen.
Peter Phillips ist Gründer und musikalischer Leiter der Tallis Scholars, mit denen er in den vergangenen fünf Jahrzehnten Konzerte in aller Welt gab und mehr als 60 preisgekrönte Aufnahmen veröffentlichte. Er verfasste mehrere Bücher über Chormusik der Renaissance und seine Arbeit mit dem Ensemble, war für 33 Jahre Musikkolumnist des Spectator und ist seit 1995 Herausgeber der Fachzeitschrift Musical Times.
Übersetzung aus dem Englischen: Sylvia Zirden
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