Willem und ich stehen auf der Piazza della Signoria in Florenz. Es ist ein strahlender Frühlingstag, alle sind draußen und genießen einen der seltenen Nachmittage ohne Lockdown. Aber wenn man die Augen schließt und an die Geschichte dieses Ortes denkt, hört man die Flammen knistern.
Genau hier hielt der fanatische Dominikanermönch Girolamo Savonarola am Faschingsdienstag 1497 sein berühmtes „Fegefeuer der Eitelkeiten“ ab. Vier Jahre lang kontrollierte Savonarola das öffentliche Leben in Florenz, ehe die Medici-Familie sich die Macht zurückholte. Auf demselben Platz, auf dem er Bücher, Kosmetika, schöne Kleider, Musikinstrumente, Manuskripte und unbezahlbare Kunstwerke verbrannt hatte, starb Savonarola 1498 selbst auf dem Scheiterhaufen.
In der Biblioteca Riccardiana zeigt uns Dr. Francesca Gallori eine kommentierte Bibel aus dem 15. Jahrhundert, die mit großer Wahrscheinlichkeit Savonarola gehörte. Die handschriftlichen Anmerkungen werden immer winziger und manischer, das Buch der Offenbarung ist schließlich von immer feineren und detaillierten Kritzeleien überdeckt. Während seiner letzten Tage im Gefängnis meditierte Savonarola über den Psalm 51, das Miserere mei, Deus, den er womöglich aus dieser Bibel las.
Wir wissen nicht, ob Josquin Savonarola jemals predigen hörte oder nicht. Aber interessanterweise beauftragte einer seiner Auftraggeber, Herzog Ercole d’Este von Ferrara, der erfolglos versucht hatte, seinen alten Freund Savonarola zu retten, Josquin nur wenige Jahre später mit der Vertonung genau dieses Psalms 51. Savonarola verbrannte nicht nur Gemälde, sondern hetzte gleichzeitig gegen die kunstvolle musikalische Polyphonie – das macht Josquin zu einem unwahrscheinlichen Verbündeten. So wie Martin Luther später den Choral in die Kirchenmusik einführte, setzte sich Savonarola für die einfache Lauda-Form der Vokalmusik ein, die im Allgemeinen aus einer einzigen melodischen Linie bestand und auf klare Textverständlichkeit ausgerichtet war. Stratton Bull, Gründer der Cappella Pratensis, erklärt uns jedoch, dass Josquins sehr direkte und textorientierte Vertonung des Miserere viele Qualitäten aufweist, die Savonarola gefallen hätten, und daher durchaus als Hommage an den Religionsreformer gedacht gewesen sein könnte.
Man ist sich nicht ganz sicher, wo sich Josquin zwischen seinem Aufenthalt an der Sixtinischen Kapelle und seiner Ankunft in Ferrara aufhielt; wahrscheinlich in Mailand und vielleicht in Frankreich. Aber es war seine Berufung auf die Stelle in Ferrara, der wir einen berühmten Brief aus dem Jahr 1502 verdankten – eines der wenigen erhaltenen zeitgenössischen Dokumente, die tatsächlich einen Eindruck von Josquin vermitteln. Herzog Ercole d’Este war ein großzügiger Kunstmäzen und hatte seinen Gesandten Gian de Artiganova damit beauftragt, einen neuen Hofkomponisten zu suchen. Er riet dem Herzog, nicht Josquin, sondern Heinrich Isaac zu engagieren:
„Isaac scheint mir gut geeignet zu sein, Eurer Durchlaucht zu dienen, mehr als Josquin, denn er ist gutmütiger und kameradschaftlicher und wird öfter neue Werke komponieren. Es ist wahr, dass Josquin besser komponiert, aber er komponiert, wenn er will und nicht, wenn man es von ihm will, und er verlangt 200 Dukaten Gehalt, während Isaac für 120 kommt – aber Eure Durchlaucht werden entscheiden.“ - Gian de Artiganova, 1502
Ercole entschied sich für Josquin und zahlte ihm seine 200 Dukaten, womit er Josquin zum bestbezahlten Komponisten seiner Zeit machte. Für Ercole schrieb Josquin seine Missa Hercules Dux Ferrariae, die der Musikwissenschaftler Guido Zaccagnini als eine Art musikalisches Kryptogramm beschreibt. Sie basiert auf einem sogenannten soggetto cavato, einem musikalischen Motiv, das mit Hilfe der Solmisation aus dem Namen Ercoles abgeleitet wurde: Die Tönen des Hexachords werden dabei mit bestimmten Silben benannt (ut – re – mi – fa – so – la), die dann wiederum den Vokalen in Ercoles Namen zugeordnet werden. Aus Hercules Dux Ferrariae wird so E – U – E – U – E – A – I – E bzw. die Tonfolge re – ut – re – ut – re – la – mi – re:
Josquin blieb nicht lange in Ferrara. Er verließ die Stadt überstürzt, um vor der Pest zu fliehen – eine weise Entscheidung: Jakob Obrecht, der Komponist, der seine Stelle übernahm, starb 1505 an der Seuche. Josquin kehrte nach Condé-sur-l’Escaut zurück, um seinen Lebensabend in Ruhe zu verbringen und seinen wachsenden Ruhm zu genießen. Das hing eng mit der relativ neuen Technik des Notendrucks zusammen. Zur gleichen Zeit, als Josquin an den Hof von Ferrara angeworben wurde, wurde er zum ersten Komponisten überhaupt, dem ein ganzer Band mit seinen eigenen Werken gewidmet wurde.
Das Verlagswesen kannte damals noch keine Urheberrechte und Tantiemen. Als der venezianische Verlag von Ottaviano Petrucci seinen richtungsweisenden Band mit Josquins Messen herausgab, geschah dies wahrscheinlich nicht in enger Absprache mit dem Komponisten. Wir wissen nicht, ob Josquin überhaupt je in Venedig war, obwohl die Nähe zu Ferrara es sehr wahrscheinlich macht. Über die Urheberschaft einiger der veröffentlichten Werke sollte die Josquin-Forschung in den folgenden Jahrhunderten füglich streiten – erst recht bei Petruccis zweitem Band von Josquins Messen. Aber die Venezianer wussten, dass sie auf eine Goldgrube gestoßen waren – Josquins Name garantierte Absatz, der wiederum Josquins Ruf festigte. An der Schwelle zum 16. Jahrhundert war Josquin zu einer Marke geworden.
Master of the Notes ist eine Produktion von Max Music Media im Auftrag des Pierre Boulez Saals, geschrieben von Shirley Apthorp und Willem Bruls.
Shirley Apthorp wurde in Südafrika geboren, wuchs in Australien auf und studierte Musik an der University of Tasmania. Seit 1996 lebt sie in Berlin und schreibt über Musik für zahlreiche internationale Medien, darunter die Financial Times (UK), Bloomberg (USA) und Opernwelt. Ihre Arbeiten wurden in Großbritannien, in den USA, Australien, Deutschland, Österreich, Japan, Brasilien, den Niederlanden, Norwegen und Südafrika veröffentlicht. Im Jahr 2010 gründete sie die preisgekrönte Non-Profit-Organisation Umculo, die mit Musiktheaterprojekten die gesellschaftliche Entwicklung in Südafrika unterstützt. 2019 wurde Shirley Apthorp mit dem Classical:NEXT Innovation Award ausgezeichnet.
Willem Bruls studierte Literatur und Kunstgeschichte und arbeitet als Dramaturg, Autor, Musikkritiker und Librettist. Er veröffentlichte mehrere Bücher und zahlreiche Essays zu einer Vielzahl von Themen, darunter eine Studie über Wagners Ring-Zyklus und zum Thema Orientalismus in der Oper. Er arbeitete mit Regisseuren wie Guy Cassiers und Pierre Audi zusammen und führte bei mehreren Musiktheaterproduktionen selbst Regie. Für die Ruhrtriennale schrieb er eine Bühnenadaption von Pasolinis Teorema. Er gab Workshops über zeitgenössisches Musiktheater, Librettoschreiben und Jugendtheater in ganz Europa und ist Berater für darstellende Künste beim niederländischen Kulturrat.
Credits
Die Musik für diesen Podcast wurde komponiert von Karim Said und aufgenommen von Angela Boutros, Elias Aboud, Roshanak Rafani und Joseph Protze an der Barenboim-Said Akademie.
Auszüge aus Josquin des Prez, Miserere mei, aufgenommen von Cinquecento © Hyperion Records Ltd., London.
Auszüge aus Josquin des Prez, Missa Hercules Dux Ferrariae, aufgenommen von Peter Phillips & The Tallis Scholars © Gimell Records.
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