In der letzten Folge erklärte uns Komponist und Pianist Karim Said, der auch die Musik für diesen Podcast geschrieben hat, wie Josquin mit seiner Missa La sol fa re mi seinem Mailänder Arbeitgeber Kardinal Ascanio Sforza auf besonders nachdrückliche Art und Weise zu verstehen gab, dass es an der Zeit war, ihn zu bezahlen. Aber ist diese Geschichte überhaupt wahr? Es gibt eine andere Anekdote, die die Messe mit Josquins Zeit in Rom in Verbindung bringt: Angeblich schrieb er sie als Fingerzeig für Cem, den Bruder des osmanischen Sultans, der vom Papst als Geisel gehalten wurde.
Cem, so heißt es, sollte zum Christentum konvertieren und die Kreuzzüge unterstützen – was er vielleicht in Erwägung zog, aber nie tat. Wollte Josquin ihn musikalisch daran erinnern, was von ihm erwartet wurde? Karim Said glaubt lieber der anderen Geschichte.
Als Josquin in Rom ankam, sah die Stadt ganz anders aus als die prachtvolle Hauptstadt der Christenheit, wie sie die Renaissance-Päpste des frühen 16. Jahrhunderts (wieder) aufbauen sollten und die uns heute vielleicht zuerst in den Sinn kommt. Nach dem Niedergang des Römischen Reiches, erklärt Willem, war die Ewige Stadt zu einer Art Provinznest voller verfallener römischer Ruinen geschrumpft. Ende des 15. Jahrhunderts war der Kirchenstaat, sowohl als religiöse als auch als weltliche Autorität, gerade erst dabei, seine politische und wirtschaftliche Macht zu konsolidieren; und als die Pläne für den überwältigenden Neubau des Petersdoms langsam Gestalt annahmen, hatte Josquin die Stadt schon längst wieder verlassen.
Als Willem und ich im Jahr 2020 in Rom ankommen, ist die Stadt im harten Lockdown. Laura Carbonara, Kunsthistorikerin und Stadtführerin in Rom, schafft es dennoch, uns in die Vatikanische Bibliothek einzuschleusen. Dort können wir einige der frühesten erhaltenen Manuskripte von Josquins Werken sehen. Musikwissenschaftler Guido Zaccagnini erläutert seine Theorie, dass es Josquin sich während seiner Zeit in der Unsterblichen Stadt sehr gut gehen ließ. Ein Job im Chor der Sixtinischen Kapelle war zwar nichts für schwache Nerven – aber Dokumente aus der damaligen Zeit belegen, dass die Proben nicht selten mit einer Kneipenparty endeten. Luca Della Libera, ein weiterer römischer Musikwissenschaftler, führt uns durch die Kirchen der Stadt und beschreibt ihre Musikgeschichte. Er erzählt uns, wie streng die Regeln für die Sänger der Sixtinischen Kapelle waren: Ein Mitglied des Chors, der „puntatore“, notierte jede falsch gesungene Note, für die den Sängern am Ende des Monats der Lohn gekürzt wurde.
Man kam vielleicht aus musikalischen Gründen nach Rom, sagt Zaccagnini, aber man blieb auch wegen des guten Lebens. Wie er erzählt, herrschte in der wachsenden Stadt eine Art freudiges Durcheinander. Palestrina verdiente sein Geld nicht mit Komponieren, sondern im Weinhandel; vielleicht machte auch Josquin nebenbei seine eigenen Geschäfte. Wahrscheinlich lebte er außerhalb des Vatikans, in einer der vielen Herbergen für päpstliche Angestellte. Während die meisten davon ausgehen, dass Josquin ein zölibatäres, vielleicht sogar klösterliches Leben führte, da es keine Aufzeichnungen darüber gibt, dass er jemals verheiratet war, stellt sich Zaccagnini gerne vor, dass er eine Freundin und vielleicht sogar Kinder in Rom hatte – warum nicht?
Ein dritter römischer Musikwissenschaftler, Franco Piperno, ist der Meinung, dass Josquin politisch klug gewesen sein muss und vielleicht sogar als Spion gearbeitet hat; ein solches Doppelleben war für Sänger nicht ungewöhnlich. In jedem Fall, so Piperno, war die Bezahlung großzügig und das Leben komfortabel. Untrennbar mit Josquins Zeit in Rom verbunden sind seine L’homme-armé-Messen, zwei sehr unterschiedliche Vertonungen auf Grundlange eines populären Liedes über den Krieg. „Fürchtet den bewaffneten Mann“, heißt es darin. „Es hat sich herumgesprochen, dass sich jeder mit einem eisernen Haubregon bewaffnen soll“ – mit anderen Worten: Zieh dein Kettenhemd an, du könntest der Nächste sein. Guido Zaccagnini sagt, dass man nicht über Josquin in Rom sprechen kann, ohne über L’homme armé zu sprechen. Mit ihrer komplexen kontrapunktischen Behandlung des Liedes setzt die Messe die Messlatte für alle nachfolgenden Komponisten stratosphärisch hoch.
Tuin de Vries’ Roman über Josquin legt nahe, dass der fromme Belgier zutiefst schockiert gewesen wäre von den Ausschweifungen und der Korruption, die Rom unter Papst Alexander VI. prägten, einem Mitglied der Borgia-Familie, der eine Reihe von Kindern zeugte und ihnen zu vorteilhaften Positionen verhalf. Überraschend viele Menschen, die wir treffen, sind dagegen der Ansicht, dass die Borgias bestenfalls Opfer schlechter PR, schlimmstenfalls von Verleumdungen wurden, lanciert von ihren Rivalen und im Nachhinein maßlos übertrieben.
Sicher scheint jedenfalls zu sein, dass Josquin als Mitglied des Chors der Sixtinischen Kapelle ein komfortables Leben genoss, großzügig bezahlt wurde und sich in bester musikalischer Gesellschaft befand – und dort einige seiner besten Werke schrieb. Was also zog ihn nach Florenz und Ferrara? In welcher Beziehung stand er zu dem fanatischen Reformator Savonarola? War er wirklich gläubig, oder betrachtete er Religion ganz pragmatisch als politische Angelegenheit? Nächste Folge wissen wir mehr.
Master of the Notes ist eine Produktion von Max Music Media im Auftrag des Pierre Boulez Saals, geschrieben von Shirley Apthorp und Willem Bruls.
Shirley Apthorp wurde in Südafrika geboren, wuchs in Australien auf und studierte Musik an der University of Tasmania. Seit 1996 lebt sie in Berlin und schreibt über Musik für zahlreiche internationale Medien, darunter die Financial Times (UK), Bloomberg (USA) und Opernwelt. Ihre Arbeiten wurden in Großbritannien, in den USA, Australien, Deutschland, Österreich, Japan, Brasilien, den Niederlanden, Norwegen und Südafrika veröffentlicht. Im Jahr 2010 gründete sie die preisgekrönte Non-Profit-Organisation Umculo, die mit Musiktheaterprojekten die gesellschaftliche Entwicklung in Südafrika unterstützt. 2019 wurde Shirley Apthorp mit dem Classical:NEXT Innovation Award ausgezeichnet.
Willem Bruls studierte Literatur und Kunstgeschichte und arbeitet als Dramaturg, Autor, Musikkritiker und Librettist. Er veröffentlichte mehrere Bücher und zahlreiche Essays zu einer Vielzahl von Themen, darunter eine Studie über Wagners Ring-Zyklus und zum Thema Orientalismus in der Oper. Er arbeitete mit Regisseuren wie Guy Cassiers und Pierre Audi zusammen und führte bei mehreren Musiktheaterproduktionen selbst Regie. Für die Ruhrtriennale schrieb er eine Bühnenadaption von Pasolinis Teorema. Er gab Workshops über zeitgenössisches Musiktheater, Librettoschreiben und Jugendtheater in ganz Europa und ist Berater für darstellende Künste beim niederländischen Kulturrat.
Credits
Die Musik für diesen Podcast wurde komponiert von Karim Said und aufgenommen von Angela Boutros, Elias Aboud, Roshanak Rafani und Joseph Protze an der Barenboim-Said Akademie.
Auszüge aus Josquin des Prez, Missa La sol fa re mi und Missa L’homme armé super voces musicales, aufgenommen von Peter Phillips & The Tallis Scholars © Gimell Records.
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