Er hat für Könige, Herzöge und Päpste gearbeitet und stand in Diensten an den Höfen von Mailand, Aix-en-Provence, Ferrara, Rom und Paris.. Und doch zog sich Josquin am Ende seines Lebens aus dem Trubel des höfischen Lebens in Europa in eine komfortable Stellung in seiner Heimatstadt Condé-sur-l’Escaut zurück. Vielleicht war er es Leid immer wieder vor der Pest zu fliehen, vielleicht hatte er genug vom politischen Parkett, vielleicht wollte er auch einfach nur nach Hause.
In seinem Testament verfügte er, dass jedes Jahr an seinem Todestag sein Pater Noster vor seinem Haus von einer vorbeiziehenden Prozession gesungen werden soll. Aber wie lange ist die Ewigkeit? Wo einst Josquins Haus stand, befindet sich heute ein Parkplatz; niemand singt dort mehr sein Pater Noster. Doch Vermächtnis heißt mehr als nur eine jährliche Gedenkfeier.
Die Tallis Scholars und Peter Phillips haben 2022 mit ihrer Aufführung sämtlicher Messen Josquins im Pierre Boulez Saal gezeigt, dass seine Musik bis heute für volle Häuser und stehende Ovationen sorgen kann. Aber auch die Komponist:innen, die nach ihm kamen, wurden von ihm geprägt. Karim Said weist darauf hin, dass Johannes Brahms viele spätere Komponist:innen mit Josquin in Verbindung brachte: „Brahms’ Interesse an Josquin ist gut dokumentiert, und auch das Interesse der Zweiten Wiener Schule an dem, was wir im weitesten Sinne als Alte Musik bezeichnen, ist gut dokumentiert. Man könnte sagen, dass es eigentlich mit Brahms begann, der sich für mittelalterliche rhythmische Modi interessierte, und die ganze rhythmische Vielfalt, die er in seiner eigenen Musik hat, kommt daher – wenn er zum Beispiel Hemiolen verwendet, also zwei gegen drei setzt. Und denken Sie an die verschiedenen Traditionen, auf die die Zweite Wiener Schule zurückgreift – ein Hexachord ist letztendlich einer Tonreihe gar nicht so unähnlich.“
Der thailändische Komponist Prach Boondiskulchok begegnete Josquins Musik zum ersten Mal, als er als 16-Jähriger Kontrapunkt studierte: „Das war, bevor es YouTube gab, also musste ich an die Universität von Surrey gehen, um CDs zu finden. Und ich hörte mir die Missa La sol fa re mi an, was eine transformative Erfahrung war. Ich erinnere mich, dass mich das Gefühl für die Proportionen sehr bewegt hat; es gibt immer ein Gefühl für das menschliche Maß.“ Für sein jüngstes Chorwerk The Work ließ sich Boondiskulchok direkt von Josquins Vertonung lateinischer Texte als Cantus firmus inspirieren.
Der amerikanische Komponist und Aktivist Anthony R. Green sieht Josquins Musik zwar eindeutig der europäischen Tradition zugehörig, ist aber der Ansicht, dass es einen Weg gibt, sie in einem größeren Rahmen als dem Europa der damaligen Zeit zu kontextualisieren. Wie Boondiskulchok kam auch Green zum ersten Mal mit Josquins Musik in Berührung, als er Kontrapunkt studierte: „Ich erinnere mich, dass ich einfach nur staunte, wie er Rhythmus und Melodie manipulieren konnte, um diese fantastischen Welten zu schaffen. Ich glaube, dass das, was er geschaffen hat, schon damals einzigartig war. Und ich würde sagen, dass mein allererster Eindruck von Josquin der einer schieren Schönheit war.“
Wir hoffen, dass Sie weiter Josquin hören und dabei immer wieder Dinge entdecken, die wir vorher nicht wussten
Doch erst vor kurzem, so Green, habe er von dem afro-portugiesischen Komponisten Vicente Lusitano erfahren, der 1520, ein Jahr vor Josquins Tod, geboren wurde. „Ich habe das Gefühl, dass es viele andere nicht-weiße europäische Musiker:innen gab, die zu dieser Zeit aktiv waren und deren Geschichten völlig verloren sind. Es ist also unsere Aufgabe als Wissenschaftler:innen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um diese Geschichten aufzudecken und herauszufinden, wie sie das Leben und die Komposition in dieser Zeit beeinflussen. Und ich denke, dass wir das im Hinblick auf die Josquin-Forschung tun können. Wenn wir das nicht tun, verlieren wir ein vollständiges Bild der Musikgeschichte. Aber das ist eine wirklich sehr große Aufgabe.“
Wir sind am Ende unserer Reise auf den Spuren Josquins angelangt. Auf dem Weg gab es Kriege, Seuchen und falsche Zuschreibungen, aber durch all das hindurch blieb Josquins unglaubliches Vermächtnis bestehen, ein Werk, das heute noch genauso lebendig ist wie damals, als er es vor einem halben Jahrtausend schrieb.
Wir hoffen, dass Sie weiter Josquin hören und dabei immer wieder Dinge entdecken, die wir vorher nicht wussten; und wir hoffen, dass The Tallis Scholars eines Tages noch einmal alle 18 Messen aufführen.
Master of the Notes ist eine Produktion von Max Music Media im Auftrag des Pierre Boulez Saals, geschrieben von Shirley Apthorp und Willem Bruls.
Shirley Apthorp wurde in Südafrika geboren, wuchs in Australien auf und studierte Musik an der University of Tasmania. Seit 1996 lebt sie in Berlin und schreibt über Musik für zahlreiche internationale Medien, darunter die Financial Times (UK), Bloomberg (USA) und Opernwelt. Ihre Arbeiten wurden in Großbritannien, in den USA, Australien, Deutschland, Österreich, Japan, Brasilien, den Niederlanden, Norwegen und Südafrika veröffentlicht. Im Jahr 2010 gründete sie die preisgekrönte Non-Profit-Organisation Umculo, die mit Musiktheaterprojekten die gesellschaftliche Entwicklung in Südafrika unterstützt. 2019 wurde Shirley Apthorp mit dem Classical:NEXT Innovation Award ausgezeichnet.
Willem Bruls studierte Literatur und Kunstgeschichte und arbeitet als Dramaturg, Autor, Musikkritiker und Librettist. Er veröffentlichte mehrere Bücher und zahlreiche Essays zu einer Vielzahl von Themen, darunter eine Studie über Wagners Ring-Zyklus und zum Thema Orientalismus in der Oper. Er arbeitete mit Regisseuren wie Guy Cassiers und Pierre Audi zusammen und führte bei mehreren Musiktheaterproduktionen selbst Regie. Für die Ruhrtriennale schrieb er eine Bühnenadaption von Pasolinis Teorema. Er gab Workshops über zeitgenössisches Musiktheater, Librettoschreiben und Jugendtheater in ganz Europa und ist Berater für darstellende Künste beim niederländischen Kulturrat.
Credits
Die Musik für diesen Podcast wurde komponiert von Karim Said und aufgenommen von Angela Boutros, Elias Aboud, Roshanak Rafani und Joseph Protze an der Barenboim-Said Akademie.
Auszüge aus Josquin des Prez, Pater noster, aufgenommen von Cinquecento © Hyperion Records Ltd., London.
Auszüge aus Josquin des Prez, Missa L'homme armé super voces musicales, aufgenommen von Peter Phillips & The Tallis Scholars © Gimell Records.
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