Master of the Notes: Folge 8

501 Jahre und kein Ende in Sicht

Er hat für Könige, Herzöge und Päpste gearbeitet und stand in Diensten an den Höfen von Mailand, Aix-en-Provence, Ferrara, Rom und Paris.. Und doch zog sich Josquin am Ende seines Lebens aus dem Trubel des höfischen Lebens in Europa in eine komfortable Stellung in seiner Heimatstadt Condé-sur-l’Escaut zurück. Vielleicht war er es Leid immer wieder vor der Pest zu fliehen, vielleicht hatte er genug vom politischen Parkett, vielleicht wollte er auch einfach nur nach Hause.

In seinem Testament verfügte er, dass jedes Jahr an seinem Todestag sein Pater Noster vor seinem Haus von einer vorbeiziehenden Prozession gesungen werden soll. Aber wie lange ist die Ewigkeit? Wo einst Josquins Haus stand, befindet sich heute ein Parkplatz; niemand singt dort mehr sein Pater Noster. Doch Vermächtnis heißt mehr als nur eine jährliche Gedenkfeier.

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Josquins Pater noster in einer Handschrift aus den 1580er Jahren (© Bayerische Staatsbibliothek München)

Die Tallis Scholars und Peter Phillips haben 2022 mit ihrer Aufführung sämtlicher Messen Josquins im Pierre Boulez Saal gezeigt, dass seine Musik bis heute für volle Häuser und stehende Ovationen sorgen kann. Aber auch die Komponist:innen, die nach ihm kamen, wurden von ihm geprägt. Karim Said weist darauf hin, dass Johannes Brahms viele spätere Komponist:innen mit Josquin in Verbindung brachte: „Brahms’ Interesse an Josquin ist gut dokumentiert, und auch das Interesse der Zweiten Wiener Schule an dem, was wir im weitesten Sinne als Alte Musik bezeichnen, ist gut dokumentiert. Man könnte sagen, dass es eigentlich mit Brahms begann, der sich für mittelalterliche rhythmische Modi interessierte, und die ganze rhythmische Vielfalt, die er in seiner eigenen Musik hat, kommt daher – wenn er zum Beispiel Hemiolen verwendet, also zwei gegen drei setzt. Und denken Sie an die verschiedenen Traditionen, auf die die Zweite Wiener Schule zurückgreift – ein Hexachord ist letztendlich einer Tonreihe gar nicht so unähnlich.“

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Die Tallis Scholars und Peter Phillips bei ihrer Gesamtaufführung von Josquins Messen im Pierre Boulez Saal, Juli 2022 (© Peter Adamik)

Der thailändische Komponist Prach Boondiskulchok begegnete Josquins Musik zum ersten Mal, als er als 16-Jähriger Kontrapunkt studierte: „Das war, bevor es YouTube gab, also musste ich an die Universität von Surrey gehen, um CDs zu finden. Und ich hörte mir die Missa La sol fa re mi an, was eine transformative Erfahrung war. Ich erinnere mich, dass mich das Gefühl für die Proportionen sehr bewegt hat; es gibt immer ein Gefühl für das menschliche Maß.“ Für sein jüngstes Chorwerk The Work ließ sich Boondiskulchok direkt von Josquins Vertonung lateinischer Texte als Cantus firmus inspirieren.

Der amerikanische Komponist und Aktivist Anthony R. Green sieht Josquins Musik zwar eindeutig der europäischen Tradition zugehörig, ist aber der Ansicht, dass es einen Weg gibt, sie in einem größeren Rahmen als dem Europa der damaligen Zeit zu kontextualisieren. Wie Boondiskulchok kam auch Green zum ersten Mal mit Josquins Musik in Berührung, als er Kontrapunkt studierte: „Ich erinnere mich, dass ich einfach nur staunte, wie er Rhythmus und Melodie manipulieren konnte, um diese fantastischen Welten zu schaffen. Ich glaube, dass das, was er geschaffen hat, schon damals einzigartig war. Und ich würde sagen, dass mein allererster Eindruck von Josquin der einer schieren Schönheit war.“

Wir hoffen, dass Sie weiter Josquin hören und dabei immer wieder Dinge entdecken, die wir vorher nicht wussten

Doch erst vor kurzem, so Green, habe er von dem afro-portugiesischen Komponisten Vicente Lusitano erfahren, der 1520, ein Jahr vor Josquins Tod, geboren wurde. „Ich habe das Gefühl, dass es viele andere nicht-weiße europäische Musiker:innen gab, die zu dieser Zeit aktiv waren und deren Geschichten völlig verloren sind. Es ist also unsere Aufgabe als Wissenschaftler:innen, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um diese Geschichten aufzudecken und herauszufinden, wie sie das Leben und die Komposition in dieser Zeit beeinflussen. Und ich denke, dass wir das im Hinblick auf die Josquin-Forschung tun können. Wenn wir das nicht tun, verlieren wir ein vollständiges Bild der Musikgeschichte. Aber das ist eine wirklich sehr große Aufgabe.“

Wir sind am Ende unserer Reise auf den Spuren Josquins angelangt. Auf dem Weg gab es Kriege, Seuchen und falsche Zuschreibungen, aber durch all das hindurch blieb Josquins unglaubliches Vermächtnis bestehen, ein Werk, das heute noch genauso lebendig ist wie damals, als er es vor einem halben Jahrtausend schrieb.

Wir hoffen, dass Sie weiter Josquin hören und dabei immer wieder Dinge entdecken, die wir vorher nicht wussten; und wir hoffen, dass The Tallis Scholars eines Tages noch einmal alle 18 Messen aufführen.



Master of the Notes ist eine Produktion von Max Music Media im Auftrag des Pierre Boulez Saals, geschrieben von Shirley Apthorp und Willem Bruls.

Shirley Apthorp wurde in Südafrika geboren, wuchs in Australien auf und studierte Musik an der University of Tasmania. Seit 1996 lebt sie in Berlin und schreibt über Musik für zahlreiche internationale Medien, darunter die Financial Times (UK), Bloomberg (USA) und Opernwelt. Ihre Arbeiten wurden in Großbritannien, in den USA, Australien, Deutschland, Österreich, Japan, Brasilien, den Niederlanden, Norwegen und Südafrika veröffentlicht. Im Jahr 2010 gründete sie die preisgekrönte Non-Profit-Organisation Umculo, die mit Musiktheaterprojekten die gesellschaftliche Entwicklung in Südafrika unterstützt. 2019 wurde Shirley Apthorp mit dem Classical:NEXT Innovation Award ausgezeichnet.

Willem Bruls studierte Literatur und Kunstgeschichte und arbeitet als Dramaturg, Autor, Musikkritiker und Librettist. Er veröffentlichte mehrere Bücher und zahlreiche Essays zu einer Vielzahl von Themen, darunter eine Studie über Wagners Ring-Zyklus und zum Thema Orientalismus in der Oper. Er arbeitete mit Regisseuren wie Guy Cassiers und Pierre Audi zusammen und führte bei mehreren Musiktheaterproduktionen selbst Regie. Für die Ruhrtriennale schrieb er eine Bühnenadaption von Pasolinis Teorema. Er gab Workshops über zeitgenössisches Musiktheater, Librettoschreiben und Jugendtheater in ganz Europa und ist Berater für darstellende Künste beim niederländischen Kulturrat.



Credits

Die Musik für diesen Podcast wurde komponiert von Karim Said und aufgenommen von Angela Boutros, Elias Aboud, Roshanak Rafani und Joseph Protze an der Barenboim-Said Akademie.
Auszüge aus Josquin des Prez, Pater noster, aufgenommen von Cinquecento © Hyperion Records Ltd., London.
Auszüge aus Josquin des Prez, Missa L'homme armé super voces musicales, aufgenommen von Peter Phillips & The Tallis Scholars © Gimell Records.

Im Fall bestehender und nicht berücksichtiger Urheberrechte bitten wir den/die Rechteinhaber um Nachricht.

Podcast: Master of the Notes

Podcast: Master of the Notes

Pietro Perugino, Die Übergabe der Schlüssel (1482) © Vatikanische Museen (Foto: Eric Vandeville / akg images)

Wer war Josquin? 500 Jahre nach seinem Tod ist diese Frage gar nicht mehr so leicht zu beantworten – obwohl er zu Lebzeiten als wirklicher Superstar gefeiert wurde. Deshalb haben sich Shirley Apthorp und Willem Bruls für ihren Podcast „Master of the Notes“ auf die Suche nach Josquin gemacht und sind seinen Spuren in acht Folgen quer durch Europa gefolgt. In englischer Sprache

Folge 1: Einführung

Wie wurde ein Sänger aus dem burgundischen Flandern zu Europas begehrtestem Komponisten? Ausgehend von einem Namen, eingeritzt in die Wand der Sixtinischen Kapelle, begeben sich Shirley Apthorp und Willem Bruls in ganz Europa auf die Suche nach Josquin, die sie in dieser ersten Folge von Rom an die Orte der Kindheit des Komponisten führt.

Spur zu Josquin: seine Unterschrift eingeritzt ins Chorgestühl der Sixtinischen Kapelle (© Creative Commons)

Folge 2: Warum Josquin?

War Martin Luther Josquins PR-Agent? Was verraten uns die Noten, die Hieronymus Bosch auf einen nackten Hintern malte? War Josquin der Retter der polyphonen Kirchenmusik, oder einfach nur ein Fiesling? In der zweiten Folge von Master of the Notes reisen Shirley und Willem auf den Spuren Josquins von Antwerpen nach Mailand und Rom, um herauszufinden, warum ausgerechnet er als „der Noten Meister“ gefeiert wurde. Was genau hatte er seinen Zeitgenossen voraus und verschaffte ihm einen Ruf, der ein halbes Jahrtausend überdauern sollte?

Ausschnitt aus Hieronymus Boschs Garten der irdischen Freuden, ca. 1500 (© Creative Commons)

Folge 3: Im Spinnennetz

Wer zum Teufel würde für einen Mann arbeiten, der seine eigenen Verwandten verbrannt hatte? Es spricht einiges dafür, dass Josquin genau das tat. Über seine frühen Jahre und die Anfänge seiner internationalen Karriere herrschte für lange Zeit große Unklarheit - in dieser Folge versuchen Shirley Apthorp und Willem Bruls, einige von Josquins ersten Schritten von Cambrai über Aix-en-Provence an die Pariser Sainte Chapelle zurückzuverfolgen.

Die Pariser Sainte Chapelle: Führte seine Karriere den jungen Josquin hierhin?

Folge 4: Stadt der Sackgassen

In der Biblioteca Ambrosiana in Mailand befindet sich das „Portrait eines Musikers“, das einzige erhaltene männliche Portrait von Leonardo da Vinci. Könnte es sich bei der dargestellten Person um Josquin des Prez handeln? Leonardo und Josquin arbeiteten in den späten 1480er Jahren zur gleichen Zeit am Hof der Sforza in Mailand. Also machten sich Shirley und Willem auf den Weg nach Mailand, um mehr über Josquins Zeit dort zu erfahren – gibt es in der Stadt mehr zu finden als Sackgassen?

Leonardo da Vincis (?) Portrait von Josquin des Prez (??) in der Biblioteca Ambrosiana in Mailand (© Creative Commons)

Folge 5: Alle Wege führen nach...

…Rom, wohin sonst. In den 1490er Jahren zieht Josquin mit seinem Mailänder Arbeitgeber Kardinal Ascanio Sforza in die Ewige Stadt und wird Mitglied im Chor der Sixtinischen Kapelle. Wie lebte es sich als päpstlicher Sänger? War Josquin ein frommer Diener im Dienst der Kirche oder ein diplomatisch geschickter Topverdiener, der wusste, wie man es sich gut gehen lässt? Shirley und Willem treffen in Rom auf die unterschiedlichsten Theorien.

Die Ewige Stadt im frühen 16. Jahrhundert (© Universitätsbibliothek Wrocław

Folge 6: Miserere mei

War Josquin ein Anhänger der Lehren Girolamo Savonarolas? In seinem Streben nach religiöser Läuterung brachte der radikale Dominikanermönch in den späten 1490er Jahren für kurze Zeit Florenz unter seine Kontrolle, bevor er schließlich verhaftet wurde und auf dem Scheiterhaufen starb. Hat der manische Reformator einen Nerv bei dem flämischen Komponisten getroffen, vielleicht als krasser Gegensatz zur Freizügigkeit Roms unter dem Borgia-Papst? Shirley und Willem decken interessante Verbindungen zwischen den beiden Männern auf.

Das Savonarola-Denkmal in Ferrara

Folge 7: Delphine in Venedig

Auf dem Höhepunkt der Pandemie reisen Shirley und Willem nach Venedig und genießen den Zauber der fast menschenleeren Stadt mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Schuldgefühlen. In „La Serenissima“ wollen sie mehr über Ottaviano Petrucci erfahren, der hier Ende des 15. Jahrhunderts eine neue Art des Notendrucks erfand. Heute kennt man ihn vielleicht als Namensgeber der IMSLP Petrucci Music Library. Er war auch der erste, der einen ganzen Band mit Musik eines einzigen Komponisten veröffentlichte – richtig geraten: Josquin.

Gentile Bellini, Prozession auf der Piazza San Marco (1496, © Gallerie dell’Accademia Venedig / Creative Commons)

Folge 8: 501 Jahre und kein Ende in Sicht

Er hatte für Könige, Fürsten und Päpste komponiert und an den wichtigsten Höfen Europas gearbeitet. Doch seine letzten Jahre verbrachte Josquin abseits des hektischen Treibens in seiner ruhigen Heimatstadt Condé-sur-l’Escaut. In ihrer letzten Folge kehren auch Shirley und Willem an den Ort zurück, an dem ihre Suche nach Josquin begann, und beleuchten sein Erbe und seinen Einfluss auf Komponist:innen der Vergangenheit und Gegenwart.

Eintrag zu Josquin in Petrus Opmeers Opus chronographicum von 1611 (© Yale University Library)