Master of the Notes: Folge 1

Einführung

Bei Restaurierungsarbeiten in der Sixtinischen Kapelle im Jahr 1999 legten Restaurateure hinter der Chorloggia ein übermaltes Fresko aus dem 18. Jahrhundert frei. Dabei entdeckten sie, eingeritzt ins Holz der Loggia, Graffiti aus der Zeit um 1500, darunter einen Namen, der in der Musikwissenschaft ein echtes Erdbeben auslöste: Josquin.

Wie wurde ein Sänger aus dem burgundischen Flandern zu Europas begehrtestem Komponisten? Warum landete er im Vatikan und ritzte seine Unterschrift in die Wand? Warum erinnern wir uns immer noch an einen Mann, der vor 500 Jahren gestorben ist, und was hat es mit seiner Musik auf sich, dass wir davon nicht genug bekommen können? Wir können nicht einmal genau sagen, wo oder wann er geboren wurde. Es gibt Kontroversen über seinen Namen und darüber, wo er wann gelebt hat und welche der ihm zugeschriebenen Werke er wirklich geschrieben hat.

Aber es gibt auch ein paar Dinge, die wir über Josquin wissen. In einer Zeit, in der die meisten Komponisten anonym blieben, war Josquin der erste Superstar. Er arbeitete für zwei französische Könige, zwei italienische Herzöge und zwei Päpste und veränderte die Rolle der Musik in der Gesellschaft grundlegend. Er verkehrte mit Leonardo da Vinci und den Borgias, reiste viel und sprach mehrere Sprachen, und er war der erste Komponist, dessen Werken eine eigene Notenausgabe gewidmet wurde. Und er ritzte seinen Namen in die Wand der Sixtinischen Kapelle.

Der Pierre Boulez Saal feiert fünf Jahrhunderte Josquin mit einem besonderen Festival im Juli 2022, bei dem die Tallis Scholars und ihr musikalischer Leiter Peter Phillips alle 18 erhaltenen Messen Josquins (die ihm mehr oder weniger eindeutig zugeschrieben werden können) aufführen. Für diesen Podcast, der zu diesem Anlass in Auftrag gegeben wurde, haben wir – der niederländische Musikwissenschaftler und Autor Willem Bruls und die Musikjournalistin Shirley Apthorp – sechs Monate lang in ganz Europa nach Spuren von Josquin gesucht.

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Antwerpen um 1525, Gravur eines unbekannten Künstlers (Rijksmuseum Amsterdam)

Um herauszufinden, warum die Region zwischen dem heutigen Belgien und dem Nordwesten Frankreichs vor fünf Jahrhunderten so viele einflussreiche Komponisten und Maler hervorbrachte, haben wir unsere Suche nach Josquin in Antwerpen begonnen. Dort treffen wir den kanadischen Musikwissenschaftler und Leiter der A-cappella-Gesangsgruppe Capella Pratensis, Stratton Bull. Er erzählt uns von der einzigartigen Renaissance-Atmosphäre, die man noch heute, umgeben von herausragender Architektur und Kunst des 15. Jahrhunderts, in Belgien und besonders in Antwerpen spüren kann. Damals war dieser Teil Europas auch musikalisch ein echtes Treibhaus. Mit Blick auf die bemerkenswerte künstlerische Qualität, die nicht nur Josquin, sondern auch viele andere Komponisten aus seiner Generation wie Jakob Obrecht, Johannes Ockeghem und Antoine Brumel erreichten, sagt Stratton Bull: „Als Interpret und praktischer Musiker ist es sehr einfach, Stücke aus diesem Repertoire auszuwählen, weil fast alles wirklich gut ist. Man kann eigentlich nichts falsch machen.“

In Antwerpen besuchen wir auch den Plantin-Moretus-Komplex, eines der historischen Druck- und Verlagshäuser der Stadt, mit seiner Bibliothek und Museum. Archivar Kristof Sellerslach zeigt uns das einzige erhaltene Portrait von Josquin, einen Holzschnitt, der möglicherweise von einem Gemälde kopiert wurde und in einer Enzyklopädie aus dem 16. Jahrhundert erhalten ist. Der begleitende Artikel beschreibt Josquin als einen der besten und brillantesten Komponisten aller Zeiten – interessanterweise ist der Artikel über Leonardo da Vinci, der direkt über Josquins Portrait steht, um einiges kürzer.

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Willem Bruls (links) und Archivar Kristof Sellerslach in der Bibliothek des Plantin-Moretus Museums in Antwerpen

Von Antwerpen aus fahren wir nach Condé-sur-l’Escaut, gleich hinter der heutigen französischen Grenze, in die Region, in der Josquins Leben begann und endete. Von der ursprünglichen Architektur aus dem 16. Jahrhundert ist in der durch mehrere Kriege zerstörten Stadt nichts mehr zu sehen. Stattdessen machen wir uns auf die Suche nach einer Gedenktafel, die angeblich an Josquins Grab erinnern soll, und finden schließlich immerhin eine Kopie der Inschrift in Lille:

Hier ruht Meister Josse Depres
Der einst Vorsteher dieses Ortes war
Bete zu Gott für die Toten
Dass er ihnen sein Paradies gewähre
Er starb im Jahr 1521 am 27. August
Du warst immer meine Hoffnung

Wie könnten Josquins frühe Jahre hier ausgesehen haben? Mit dem amerikanischen Musikwissenschaftler Jesse Rodin sprechen wir über seine möglicherweise sehr bewegte Kindheit, die er mit Onkel und Tante in Condé und später als Chorknabe in Cambrai verbrachte, und wie sie den Mann geformt haben könnte, der er wurde. Am Ende seiner langen Karriere sollte Josquin nach Condé-sur-l’Escaut zurückkehren. Vor seinem Tod verfügte er, dass sein Pater Noster jedes Jahr an seinem Todestag vor seinem Haus aufgeführt werden soll. Das Haus gibt es – wenig überraschend – heute nicht mehr. Aber die Musik ist geblieben.



Master of the Notes ist eine Produktion von Max Music Media im Auftrag des Pierre Boulez Saals, geschrieben von Shirley Apthorp und Willem Bruls.

Shirley Apthorp wurde in Südafrika geboren, wuchs in Australien auf und studierte Musik an der University of Tasmania. Seit 1996 lebt sie in Berlin und schreibt über Musik für zahlreiche internationale Medien, darunter die Financial Times (UK), Bloomberg (USA) und Opernwelt. Ihre Arbeiten wurden in Großbritannien, in den USA, Australien, Deutschland, Österreich, Japan, Brasilien, den Niederlanden, Norwegen und Südafrika veröffentlicht. Im Jahr 2010 gründete sie die preisgekrönte Non-Profit-Organisation Umculo, die mit Musiktheaterprojekten die gesellschaftliche Entwicklung in Südafrika unterstützt. 2019 wurde Shirley Apthorp mit dem Classical:NEXT Innovation Award ausgezeichnet.

Willem Bruls studierte Literatur und Kunstgeschichte und arbeitet als Dramaturg, Autor, Musikkritiker und Librettist. Er veröffentlichte mehrere Bücher und zahlreiche Essays zu einer Vielzahl von Themen, darunter eine Studie über Wagners Ring-Zyklus und zum Thema Orientalismus in der Oper. Er arbeitete mit Regisseuren wie Guy Cassiers und Pierre Audi zusammen und führte bei mehreren Musiktheaterproduktionen selbst Regie. Für die Ruhrtriennale schrieb er eine Bühnenadaption von Pasolinis Teorema. Er gab Workshops über zeitgenössisches Musiktheater, Librettoschreiben und Jugendtheater in ganz Europa und ist Berater für darstellende Künste beim niederländischen Kulturrat.



Credits

Die Musik für diesen Podcast wurde komponiert von Karim Said und aufgenommen von Angela Boutros, Elias Aboud, Roshanak Rafani und Joseph Protze an der Barenboim-Said Akademie.

Auszüge aus Josquin des Prez, Ave Maria, virgo serena, aufgenommen von The Tallis Scholars und Peter Phillips © Gimell Records.
Auszug aus Josquin des Prez, Pater noster, aufgenommen von The Binchois Consort und Andrew Kirkman © mit freundlicher Genehmigung durch Hyperion Records Ltd, London.
Auszug aus Josquin des Prez, El Grillo, aufgenommen von Capilla Flamenca © mit freundlicher Genehmigung von NAXOS Deutschland - www.naxos.de

Im Fall bestehender und nicht berücksichtiger Urheberrechte bitten wir den/die Rechteinhaber um Nachricht.

Podcast: Master of the Notes

Podcast: Master of the Notes

Pietro Perugino, Die Übergabe der Schlüssel (1482) © Vatikanische Museen (Foto: Eric Vandeville / akg images)

Wer war Josquin? 500 Jahre nach seinem Tod ist diese Frage gar nicht mehr so leicht zu beantworten – obwohl er zu Lebzeiten als wirklicher Superstar gefeiert wurde. Deshalb haben sich Shirley Apthorp und Willem Bruls für ihren Podcast „Master of the Notes“ auf die Suche nach Josquin gemacht und sind seinen Spuren in acht Folgen quer durch Europa gefolgt. In englischer Sprache

Folge 1: Einführung

Wie wurde ein Sänger aus dem burgundischen Flandern zu Europas begehrtestem Komponisten? Ausgehend von einem Namen, eingeritzt in die Wand der Sixtinischen Kapelle, begeben sich Shirley Apthorp und Willem Bruls in ganz Europa auf die Suche nach Josquin, die sie in dieser ersten Folge von Rom an die Orte der Kindheit des Komponisten führt.

Spur zu Josquin: seine Unterschrift eingeritzt ins Chorgestühl der Sixtinischen Kapelle (© Creative Commons)

Folge 2: Warum Josquin?

War Martin Luther Josquins PR-Agent? Was verraten uns die Noten, die Hieronymus Bosch auf einen nackten Hintern malte? War Josquin der Retter der polyphonen Kirchenmusik, oder einfach nur ein Fiesling? In der zweiten Folge von Master of the Notes reisen Shirley und Willem auf den Spuren Josquins von Antwerpen nach Mailand und Rom, um herauszufinden, warum ausgerechnet er als „der Noten Meister“ gefeiert wurde. Was genau hatte er seinen Zeitgenossen voraus und verschaffte ihm einen Ruf, der ein halbes Jahrtausend überdauern sollte?

Ausschnitt aus Hieronymus Boschs Garten der irdischen Freuden, ca. 1500 (© Creative Commons)

Folge 3: Im Spinnennetz

Wer zum Teufel würde für einen Mann arbeiten, der seine eigenen Verwandten verbrannt hatte? Es spricht einiges dafür, dass Josquin genau das tat. Über seine frühen Jahre und die Anfänge seiner internationalen Karriere herrschte für lange Zeit große Unklarheit - in dieser Folge versuchen Shirley Apthorp und Willem Bruls, einige von Josquins ersten Schritten von Cambrai über Aix-en-Provence an die Pariser Sainte Chapelle zurückzuverfolgen.

Die Pariser Sainte Chapelle: Führte seine Karriere den jungen Josquin hierhin?

Folge 4: Stadt der Sackgassen

In der Biblioteca Ambrosiana in Mailand befindet sich das „Portrait eines Musikers“, das einzige erhaltene männliche Portrait von Leonardo da Vinci. Könnte es sich bei der dargestellten Person um Josquin des Prez handeln? Leonardo und Josquin arbeiteten in den späten 1480er Jahren zur gleichen Zeit am Hof der Sforza in Mailand. Also machten sich Shirley und Willem auf den Weg nach Mailand, um mehr über Josquins Zeit dort zu erfahren – gibt es in der Stadt mehr zu finden als Sackgassen?

Leonardo da Vincis (?) Portrait von Josquin des Prez (??) in der Biblioteca Ambrosiana in Mailand (© Creative Commons)

Folge 5: Alle Wege führen nach...

…Rom, wohin sonst. In den 1490er Jahren zieht Josquin mit seinem Mailänder Arbeitgeber Kardinal Ascanio Sforza in die Ewige Stadt und wird Mitglied im Chor der Sixtinischen Kapelle. Wie lebte es sich als päpstlicher Sänger? War Josquin ein frommer Diener im Dienst der Kirche oder ein diplomatisch geschickter Topverdiener, der wusste, wie man es sich gut gehen lässt? Shirley und Willem treffen in Rom auf die unterschiedlichsten Theorien.

Die Ewige Stadt im frühen 16. Jahrhundert (© Universitätsbibliothek Wrocław

Folge 6: Miserere mei

War Josquin ein Anhänger der Lehren Girolamo Savonarolas? In seinem Streben nach religiöser Läuterung brachte der radikale Dominikanermönch in den späten 1490er Jahren für kurze Zeit Florenz unter seine Kontrolle, bevor er schließlich verhaftet wurde und auf dem Scheiterhaufen starb. Hat der manische Reformator einen Nerv bei dem flämischen Komponisten getroffen, vielleicht als krasser Gegensatz zur Freizügigkeit Roms unter dem Borgia-Papst? Shirley und Willem decken interessante Verbindungen zwischen den beiden Männern auf.

Das Savonarola-Denkmal in Ferrara

Folge 7: Delphine in Venedig

Auf dem Höhepunkt der Pandemie reisen Shirley und Willem nach Venedig und genießen den Zauber der fast menschenleeren Stadt mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Schuldgefühlen. In „La Serenissima“ wollen sie mehr über Ottaviano Petrucci erfahren, der hier Ende des 15. Jahrhunderts eine neue Art des Notendrucks erfand. Heute kennt man ihn vielleicht als Namensgeber der IMSLP Petrucci Music Library. Er war auch der erste, der einen ganzen Band mit Musik eines einzigen Komponisten veröffentlichte – richtig geraten: Josquin.

Gentile Bellini, Prozession auf der Piazza San Marco (1496, © Gallerie dell’Accademia Venedig / Creative Commons)

Folge 8: 501 Jahre und kein Ende in Sicht

Er hatte für Könige, Fürsten und Päpste komponiert und an den wichtigsten Höfen Europas gearbeitet. Doch seine letzten Jahre verbrachte Josquin abseits des hektischen Treibens in seiner ruhigen Heimatstadt Condé-sur-l’Escaut. In ihrer letzten Folge kehren auch Shirley und Willem an den Ort zurück, an dem ihre Suche nach Josquin begann, und beleuchten sein Erbe und seinen Einfluss auf Komponist:innen der Vergangenheit und Gegenwart.

Eintrag zu Josquin in Petrus Opmeers Opus chronographicum von 1611 (© Yale University Library)