Master of the Notes: Folge 3

Im Spinnennetz: Die Anfänge von Josquins Karriere zwischen Cambrai, Aix-en-Provence und Paris

Im Jahr 1483 reiste Josquin nach Condé-sur-l’Escaut, um das Erbe seiner Tante und seines Onkels anzutreten. Wie sind sie gestorben? Möglicherweise fielen sie der Armee des französischen Königs Ludwig XI. zum Opfer, der die Stadt 1478 belagert und zumindest Teile davon niedergebrannt hatte. Ludwig XI., genannt „die Spinne“, war gefürchtet; sein Aktionsradius war groß und sein Netz tödlich. Die Franzosen befanden sich im Krieg mit den Burgundern, und vielleicht wurden Josquins Tante und Onkel in das Gemetzel verwickelt.

Wer zum Teufel würde für einen Mann arbeiten, der seine eigenen Verwandten verbrannt hatte? Es spricht einiges dafür, dass Josquin genau das tat. Wo er sich zwischen 1483 und seiner letzten dokumentierten Anstellung fünf Jahre zuvor am Hof von König René d’Anjou in Aix-en-Provence aufgehalten hat, ist nicht restlos geklärt. Doch als René 1480 starb, wurden acht seiner Sänger in Louis’ Sainte Chapelle geschickt, und Josquin könnte sehr gut einer von ihnen gewesen sein. Seine Motette Misericordias Domini liefert dafür eine Art musikalischen Beweis.

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Die Pariser Sainte Chapelle: Sang Josquin hier für König Ludwig XI.? (© Creative Commons)

Der amerikanische Musikwissenschaftler Patrick Macey argumentierte vor 30 Jahren in einer außergewöhnlichen musikalischen Detektivarbeit, dass die Motette aus der Feder Josquins stammen muss. Ludwig XI. war von der Idee besessen, den Tod abzuwenden, indem er für Kunstwerke und Musik bezahlte, und besonders besessen war er von dem Text „Misericordias Domini“. Die Art und Weise, wie Josquin den Text dieser Motette zusammenstellte, die sein eigenes freies Patchwork aus Psalmenzitaten ist, deutet sehr stark auf eine direkte Verbindung mit dem König hin.

„Als ich anfing, konnte man sich nicht einmal darauf einigen, wie viele Josquins es gab.“ Musikwissenschaftler Paul Merkley

Professor David Burns aus Leuven, Belgien, erklärte uns, warum der König glaubte, er könne seine Seele retten, indem er Motetten beauftragte: „Man bezahlte, um sich von einer bestimmten Anzahl von Jahren im Fegefeuer freizukaufen, und je mehr man bezahlte und je extravaganter es war, desto besser.“

Einige Jahre später gelang es einem anderen amerikanischen Musikwissenschaftler, Paul Merkley, nach jahrelanger akribischer Arbeit mit Sekundärquellen nachzuweisen, dass Josquin noch sehr jung war, als er in Aix-en-Provence ankam, und dass er tatsächlich viel jünger war, als Merkleys Kollegen bis dahin angenommen hatten. „Als ich anfing, konnte man sich nicht einmal darauf einigen, wie viele Josquins es gab, die Musik komponierten – es herrschte ein unglaubliches Durcheinander“, sagt Merkley.

In Aix-en-Provence arbeitete Josquin an einem der kultiviertesten literarischen Höfe im Europa jener Zeit; die Betonung der Poesie sollte zweifellos Josquins Umgang mit Texten für den Rest seines Lebens beeinflussen. Als René starb, wurde Josquin wahrscheinlich als einer von acht hochrangigen Sängern an den Hof Ludwigs XI. in Paris geschickt. Der erfahrene Josquin-Forscher Willem Elders erklärt uns, dass dies wahrscheinlich auf Vermittlung von Johannes Ockeghem geschah, der Josquins Lehrer gewesen sein könnte und eine enge Beziehung zur Chorschule von Cambrai unterhielt, wo Josquin als junger Sängerknabe ausgebildet wurde.

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Historische Ansicht von Cambrai aus dem 16. Jahrhundert (© Universitätsbibliothek Wrocław)

Dort hat Josquin sicherlich eine gründliche Ausbildung genossen, erklärt Peter Phillips, der musikalische Leiter der Tallis Scholars. Es war der perfekte Ort für den jungen Josquin, um seine internationale Karriere zu beginnen. Der Unterricht muss sehr streng gewesen sein. Die Chorknaben lernten Latein, die Liturgie, Musik und natürlich Mathematik. Die flämischen Chorschulen waren den heutigen britischen Chorschulen nicht unähnlich: Sie waren Internate, in denen die Jungen lernten und sangen. Es war eine gute Ausbildung, die einem später einen Platz in der Welt der Kirchenchöre garantierte, wenn man wollte. Und sie waren Teil eines viel größeren Netzwerks wirtschaftlicher und politischer Beziehungen zwischen dem Norden und Italien. Durch seine Anfänge an einer Stiftskirche in Flandern war Josquin über die Netzwerke der katholischen Kirche mit Italien und Rom verbunden. Frankreich saß etwas unbequem dazwischen – deshalb belagerte Ludwig XI. Condé, und vielleicht starben deshalb auch Josquins Tante und Onkel.

Dennoch muss er einen kühlen Kopf und viel Entschlossenheit gebraucht haben, um nach Aix-en-Provence zu gelangen und nach dem Tod von Roi René zu den acht Sängern zu gehören, die unter Ludwig XI. an die Sainte Chapelle kamen. Vielleicht waren Territorialkriege zu dieser Zeit einfach etwas ganz alltägliches, und Josquin dachte nie über die Rolle seines Arbeitgebers bei der Zerstörung seiner Heimatstadt nach. Vielleicht war es aber auch einer der Gründe, die ihn dazu brachten, nach Mailand, Rom und Ferrara weiterzuziehen.



Master of the Notes ist eine Produktion von Max Music Media im Auftrag des Pierre Boulez Saals, geschrieben von Shirley Apthorp und Willem Bruls.
Shirley Apthorp wurde in Südafrika geboren, wuchs in Australien auf und studierte Musik an der University of Tasmania. Seit 1996 lebt sie in Berlin und schreibt über Musik für zahlreiche internationale Medien, darunter die Financial Times (UK), Bloomberg (USA) und Opernwelt. Ihre Arbeiten wurden in Großbritannien, in den USA, Australien, Deutschland, Österreich, Japan, Brasilien, den Niederlanden, Norwegen und Südafrika veröffentlicht. Im Jahr 2010 gründete sie die preisgekrönte Non-Profit-Organisation Umculo, die mit Musiktheaterprojekten die gesellschaftliche Entwicklung in Südafrika unterstützt. 2019 wurde Shirley Apthorp mit dem Classical:NEXT Innovation Award ausgezeichnet.

Willem Bruls studierte Literatur und Kunstgeschichte und arbeitet als Dramaturg, Autor, Musikkritiker und Librettist. Er veröffentlichte mehrere Bücher und zahlreiche Essays zu einer Vielzahl von Themen, darunter eine Studie über Wagners Ring-Zyklus und zum Thema Orientalismus in der Oper. Er arbeitete mit Regisseuren wie Guy Cassiers und Pierre Audi zusammen und führte bei mehreren Musiktheaterproduktionen selbst Regie. Für die Ruhrtriennale schrieb er eine Bühnenadaption von Pasolinis Teorema. Er gab Workshops über zeitgenössisches Musiktheater, Librettoschreiben und Jugendtheater in ganz Europa und ist Berater für darstellende Künste beim niederländischen Kulturrat.



Credits

Die Musik für diesen Podcast wurde komponiert von Karim Said und aufgenommen von Angela Boutros, Elias Aboud, Roshanak Rafani und Joseph Protze an der Barenboim-Said Akademie.

Auszüge aus Josquin des Prez, Vive le Roy, aufgenommen von Jordi Savall & Hèsperion XXI © mit freundlicher Genehmigung von Alia Vox.
Auszüge aus Josquin des Prez, Misericordias Domini, aufgenommen von Manfred Cordes & Weser-Renaissance Bremen © mit freundlicher Genehmigung von Radio Bremen / cpo.
Auszüge aus Josquin des Prez, Missa L’ami Baudichon, aufgenommen von Peter Phillips & The Tallis Scholars © Gimell Records, London.

Im Fall bestehender und nicht berücksichtiger Urheberrechte bitten wir den/die Rechteinhaber um Nachricht.

Podcast: Master of the Notes

Podcast: Master of the Notes

Pietro Perugino, Die Übergabe der Schlüssel (1482) © Vatikanische Museen (Foto: Eric Vandeville / akg images)

Wer war Josquin? 500 Jahre nach seinem Tod ist diese Frage gar nicht mehr so leicht zu beantworten – obwohl er zu Lebzeiten als wirklicher Superstar gefeiert wurde. Deshalb haben sich Shirley Apthorp und Willem Bruls für ihren Podcast „Master of the Notes“ auf die Suche nach Josquin gemacht und sind seinen Spuren in acht Folgen quer durch Europa gefolgt. In englischer Sprache

Folge 1: Einführung

Wie wurde ein Sänger aus dem burgundischen Flandern zu Europas begehrtestem Komponisten? Ausgehend von einem Namen, eingeritzt in die Wand der Sixtinischen Kapelle, begeben sich Shirley Apthorp und Willem Bruls in ganz Europa auf die Suche nach Josquin, die sie in dieser ersten Folge von Rom an die Orte der Kindheit des Komponisten führt.

Spur zu Josquin: seine Unterschrift eingeritzt ins Chorgestühl der Sixtinischen Kapelle (© Creative Commons)

Folge 2: Warum Josquin?

War Martin Luther Josquins PR-Agent? Was verraten uns die Noten, die Hieronymus Bosch auf einen nackten Hintern malte? War Josquin der Retter der polyphonen Kirchenmusik, oder einfach nur ein Fiesling? In der zweiten Folge von Master of the Notes reisen Shirley und Willem auf den Spuren Josquins von Antwerpen nach Mailand und Rom, um herauszufinden, warum ausgerechnet er als „der Noten Meister“ gefeiert wurde. Was genau hatte er seinen Zeitgenossen voraus und verschaffte ihm einen Ruf, der ein halbes Jahrtausend überdauern sollte?

Ausschnitt aus Hieronymus Boschs Garten der irdischen Freuden, ca. 1500 (© Creative Commons)

Folge 3: Im Spinnennetz

Wer zum Teufel würde für einen Mann arbeiten, der seine eigenen Verwandten verbrannt hatte? Es spricht einiges dafür, dass Josquin genau das tat. Über seine frühen Jahre und die Anfänge seiner internationalen Karriere herrschte für lange Zeit große Unklarheit - in dieser Folge versuchen Shirley Apthorp und Willem Bruls, einige von Josquins ersten Schritten von Cambrai über Aix-en-Provence an die Pariser Sainte Chapelle zurückzuverfolgen.

Die Pariser Sainte Chapelle: Führte seine Karriere den jungen Josquin hierhin?

Folge 4: Stadt der Sackgassen

In der Biblioteca Ambrosiana in Mailand befindet sich das „Portrait eines Musikers“, das einzige erhaltene männliche Portrait von Leonardo da Vinci. Könnte es sich bei der dargestellten Person um Josquin des Prez handeln? Leonardo und Josquin arbeiteten in den späten 1480er Jahren zur gleichen Zeit am Hof der Sforza in Mailand. Also machten sich Shirley und Willem auf den Weg nach Mailand, um mehr über Josquins Zeit dort zu erfahren – gibt es in der Stadt mehr zu finden als Sackgassen?

Leonardo da Vincis (?) Portrait von Josquin des Prez (??) in der Biblioteca Ambrosiana in Mailand (© Creative Commons)

Folge 5: Alle Wege führen nach...

…Rom, wohin sonst. In den 1490er Jahren zieht Josquin mit seinem Mailänder Arbeitgeber Kardinal Ascanio Sforza in die Ewige Stadt und wird Mitglied im Chor der Sixtinischen Kapelle. Wie lebte es sich als päpstlicher Sänger? War Josquin ein frommer Diener im Dienst der Kirche oder ein diplomatisch geschickter Topverdiener, der wusste, wie man es sich gut gehen lässt? Shirley und Willem treffen in Rom auf die unterschiedlichsten Theorien.

Die Ewige Stadt im frühen 16. Jahrhundert (© Universitätsbibliothek Wrocław

Folge 6: Miserere mei

War Josquin ein Anhänger der Lehren Girolamo Savonarolas? In seinem Streben nach religiöser Läuterung brachte der radikale Dominikanermönch in den späten 1490er Jahren für kurze Zeit Florenz unter seine Kontrolle, bevor er schließlich verhaftet wurde und auf dem Scheiterhaufen starb. Hat der manische Reformator einen Nerv bei dem flämischen Komponisten getroffen, vielleicht als krasser Gegensatz zur Freizügigkeit Roms unter dem Borgia-Papst? Shirley und Willem decken interessante Verbindungen zwischen den beiden Männern auf.

Das Savonarola-Denkmal in Ferrara

Folge 7: Delphine in Venedig

Auf dem Höhepunkt der Pandemie reisen Shirley und Willem nach Venedig und genießen den Zauber der fast menschenleeren Stadt mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Schuldgefühlen. In „La Serenissima“ wollen sie mehr über Ottaviano Petrucci erfahren, der hier Ende des 15. Jahrhunderts eine neue Art des Notendrucks erfand. Heute kennt man ihn vielleicht als Namensgeber der IMSLP Petrucci Music Library. Er war auch der erste, der einen ganzen Band mit Musik eines einzigen Komponisten veröffentlichte – richtig geraten: Josquin.

Gentile Bellini, Prozession auf der Piazza San Marco (1496, © Gallerie dell’Accademia Venedig / Creative Commons)

Folge 8: 501 Jahre und kein Ende in Sicht

Er hatte für Könige, Fürsten und Päpste komponiert und an den wichtigsten Höfen Europas gearbeitet. Doch seine letzten Jahre verbrachte Josquin abseits des hektischen Treibens in seiner ruhigen Heimatstadt Condé-sur-l’Escaut. In ihrer letzten Folge kehren auch Shirley und Willem an den Ort zurück, an dem ihre Suche nach Josquin begann, und beleuchten sein Erbe und seinen Einfluss auf Komponist:innen der Vergangenheit und Gegenwart.

Eintrag zu Josquin in Petrus Opmeers Opus chronographicum von 1611 (© Yale University Library)