Master of the Notes: Folge 4

Stadt der Sackgassen: Josquin in Mailand

In der Biblioteca Ambrosiana in Mailand, die 1609 von Kardinal Federico Borromeo gegründet wurde, befindet sich das „Portrait eines Musikers“, das einzige erhaltene männliche Portrait von Leonardo da Vinci. Könnte es sich bei der dargestellten Person um Josquin des Prez handeln? Leonardo und Josquin arbeiteten in den späten 1480er Jahren zur gleichen Zeit am Hof der Sforza in Mailand. Vielleicht kannten sie sich; vielleicht waren sie sogar befreundet, und vielleicht nahm Leonardo Ölfarbe und Tempura und malte seinen Freund Josquin auf einem kleinen Stück Walnussholz – in diesem Fall wäre es das einzige erhaltene Bildnis des Komponisten.

Leonardo da Vinci zugeschrieben_Portrait of a Musician_1480er_Pinacoteca Ambrosiana Milan_Creative Commons.jpg

Leonardo da Vincis (?) Portrait von Josquin des Prez (??) in der Biblioteca Ambrosiana in Mailand (© Creative Commons)

Wir machten uns auf den Weg zu dem Bild, aber auf dem Höhepunkt des Corona-Lockdowns 2021 war das Museum geschlossen und die Kuratorinnen und Kuratoren gaben keine Interviews. Stattdessen sprachen wir mit Geoff Lehman, Kunsthistoriker und Professor am Bard College in Berlin, und fragten ihn: Könnte das Portrait von Leonardo da Vinci Josquin des Prez darstellen? Seine Antwort: Wie kommt ihr darauf, dass es von Leonardo ist? Es gibt keine gesicherten Dokumente über die Provenienz des Gemäldes; stattdessen deutet vieles darauf hin, so Lehman, dass Leonardos Josquin-Portrait weder Josquin zeigt noch von Leonardo stammt.

Das könnte auch sinnbildlich für große Teile der Josquin-Forschung stehen, die manchmal besser beweisen zu können scheint, dass Stücke nicht von Josquin komponiert wurden, als anders herum. Aber zumindest wissen wir, welchem Mitglied der Sforza-Familie Josquin besonders verbunden war: Ascanio Sforza. In Mailand erfahren wir mehr über diesen Förderer Josquins, der so wichtig für Josquins Karriere in Italien war, dass der Komponist auch als Josquin d’Ascanio bekannt wurde, Ascanios Josquin. „Ich glaube, dass Josquins Schicksal einige Jahre lang eng mit dieser Person verbunden war, die schließlich Kardinal wurde und nach Rom zog – und damit zog auch Josquin nach Rom“, sagt Raffaele Mellace, Professor für Musikwissenschaft und Musikgeschichte an der Universität von Genua.

Castello_Sforzesco_da_alto_Creative Commons_Zheng Yan_Edit.jpg

Das Castello Sforzesco in Mailand (© Zhen Yang / Creative Commons)

Josquins Missa La sol fa re mi, so geht eine Geschichte, wurde angeblich als kleiner Seitenhieb auf Ascanio komponiert. Ihm wurde nachgesagt, dass er trotz seines Reichtums die Angewohnheit hatte, nicht pünktlich zu zahlen. „Lascia fare mi“ sagte er dann mit einer abweisenden Handbewegung, wenn er wegen überfälliger Zahlungen belästigt wurde: „Überlass das mir.“ Josquin reduzierte die Redewendung auf „La sol fa re mi“, oder A-G-F-D-E, alles Noten im natürlichen Hexachord, der auf C beginnt. Pianist Karim Said, der die Musik für diesen Podcast komponiert hat, erklärte uns anhand von Klavierbeispielen, wie Hexachorde funktionieren und wie Josquin sein augenzwinkerndes Motiv in seine Messe einfließen ließ. Für die Hörerinnen und Hörer in Josquins Zeit, vielleicht besonders für Ascanio selbst, wäre die Botschaft unüberhörbar gewesen.

Es scheint, als ob Josquin bloße Komposition nicht genug war – er konnte es nicht lassen, gleichzeitig ausgeklügelte Zahlenspiele zu spielen.

Das Publikum heute hört vielleicht nicht mehr „Ähem, Zeit, mich zu bezahlen“, wenn es eine Aufführung der Missa La sol fa re mi erlebt, aber es wird nach wie vor von Josquins außergewöhnlichem Einfallsreichtum und der Perfektion seines Kontrapunkts begeistert sein. Peter Phillips, der musikalische Leiter der Tallis Scholars, erklärt, wie Josquin Mathematik einsetzt, um uns emotional ganz tief unter die Haut zu gehen: „Ich glaube, die Leute sind nach wie vor den Tränen nahe, weil Josquin eine so kraftvolle Atmosphäre aufbaut. Er schafft Stimmungen. Aber er macht es nicht wie ein romantischer Komponist, sondern auf andere Art und Weise. Und das ist das Interessante daran. Ich glaube, wir haben wirklich Glück, dass wir das trotz der großen zeitlichen Distanz immer noch spüren können. Mit Beginn der frühen Renaissance waren diese Komponisten mathematisch so versiert, dass sie eine Stimmung erzeugen konnten, die einen einfach packt.“

Es scheint, als ob Josquin bloße Komposition nicht genug war – er konnte es nicht lassen, gleichzeitig ausgeklügelte Zahlenspiele zu spielen, und zwar auf eine Art und Weise, die für seine Zeitgenossen sowohl unmittelbar erkennbar als auch ein wenig frech war. Aus seiner Zeit in Mailand, wo das Glücksspiel damals sehr beliebt war, stammt angeblich auch seine Missa Di dadi – jeder Satz basiert auf den Augenzahlen von zwei Würfeln, die scheinbar zufällig geworfen wurden. Josquin kannte offensichtlich auch die Regeln des Glücksspiels, denn er lässt die Sänger aufhören, wenn einer der „Spieler“ eine Gewinnkombination gewürfelt hat.

Di Dadi_Image_Misse Josquin_ÖNB_CLEAR.jpg

Josquins Missa Di dadi mit den vorangestellten Würfelpaaren in Ottaviano Petruccis Druckausgabe von 1514 (© Österreichische Nationalbibliothek)

Jesse Rodin, Professor an der Stanford University und Josquin-Experte – vielleicht erinnern Sie sich noch an ihn aus früheren Folgen dieses Podcasts – stimmt zu, dass die Missa Di dadi ein brillantes und originelles mathematisches Konstrukt ist. Aber er bezweifelt, dass Josquin sie tatsächlich geschrieben hat. „Es gibt darin alle möglichen Details, die man in seiner Musik sonst nie finden würde. Derjenige, der die Messe geschrieben hat, hat viel von Josquin in sich aufgesogen und arbeitet sozusagen mit Josquinschen Tricks. Und das hört man auf alle möglichen Arten. Aber es gibt viele Anzeichen dafür, dass es nicht Josquin selbst war.“

Das alles fühlt sich sehr nach einem Déjà-vu an. Zuerst das da-Vinci-Portrait, von dem sich herausstellte, dass es weder Josquin zeigt noch von Leonardo gemalt wurde. Und jetzt eine Josquin-Messe, die wahrscheinlich gar nicht von Josquin ist. Mailand scheint eine Stadt der Sackgassen zu sein. Doch wenn Peter Phillips und die Tallis Scholars im Juli dieses Jahres in Berlin Messen von Josquin aufführen, ist auch die Missa Di dadi dabei. Vielleicht liegt es in der Natur von Josquin, dass man sich nie ganz sicher sein kann.



Master of the Notes ist eine Produktion von Max Music Media im Auftrag des Pierre Boulez Saals, geschrieben von Shirley Apthorp und Willem Bruls.

Shirley Apthorp wurde in Südafrika geboren, wuchs in Australien auf und studierte Musik an der University of Tasmania. Seit 1996 lebt sie in Berlin und schreibt über Musik für zahlreiche internationale Medien, darunter die Financial Times (UK), Bloomberg (USA) und Opernwelt. Ihre Arbeiten wurden in Großbritannien, in den USA, Australien, Deutschland, Österreich, Japan, Brasilien, den Niederlanden, Norwegen und Südafrika veröffentlicht. Im Jahr 2010 gründete sie die preisgekrönte Non-Profit-Organisation Umculo, die mit Musiktheaterprojekten die gesellschaftliche Entwicklung in Südafrika unterstützt. 2019 wurde Shirley Apthorp mit dem Classical:NEXT Innovation Award ausgezeichnet.

Willem Bruls studierte Literatur und Kunstgeschichte und arbeitet als Dramaturg, Autor, Musikkritiker und Librettist. Er veröffentlichte mehrere Bücher und zahlreiche Essays zu einer Vielzahl von Themen, darunter eine Studie über Wagners Ring-Zyklus und zum Thema Orientalismus in der Oper. Er arbeitete mit Regisseuren wie Guy Cassiers und Pierre Audi zusammen und führte bei mehreren Musiktheaterproduktionen selbst Regie. Für die Ruhrtriennale schrieb er eine Bühnenadaption von Pasolinis Teorema. Er gab Workshops über zeitgenössisches Musiktheater, Librettoschreiben und Jugendtheater in ganz Europa und ist Berater für darstellende Künste beim niederländischen Kulturrat.



Credits

Die Musik für diesen Podcast wurde komponiert von Karim Said und aufgenommen von Angela Boutros, Elias Aboud, Roshanak Rafani und Joseph Protze an der Barenboim-Said Akademie.
Auszüge aus Josquin des Prez, Missa La sol fa re mi und Missa Di dadi, aufgenommen von Peter Phillips & The Tallis Scholars © Gimell Records.

Im Fall bestehender und nicht berücksichtiger Urheberrechte bitten wir den/die Rechteinhaber um Nachricht.

Podcast: Master of the Notes

Podcast: Master of the Notes

Pietro Perugino, Die Übergabe der Schlüssel (1482) © Vatikanische Museen (Foto: Eric Vandeville / akg images)

Wer war Josquin? 500 Jahre nach seinem Tod ist diese Frage gar nicht mehr so leicht zu beantworten – obwohl er zu Lebzeiten als wirklicher Superstar gefeiert wurde. Deshalb haben sich Shirley Apthorp und Willem Bruls für ihren Podcast „Master of the Notes“ auf die Suche nach Josquin gemacht und sind seinen Spuren in acht Folgen quer durch Europa gefolgt. In englischer Sprache

Folge 1: Einführung

Wie wurde ein Sänger aus dem burgundischen Flandern zu Europas begehrtestem Komponisten? Ausgehend von einem Namen, eingeritzt in die Wand der Sixtinischen Kapelle, begeben sich Shirley Apthorp und Willem Bruls in ganz Europa auf die Suche nach Josquin, die sie in dieser ersten Folge von Rom an die Orte der Kindheit des Komponisten führt.

Spur zu Josquin: seine Unterschrift eingeritzt ins Chorgestühl der Sixtinischen Kapelle (© Creative Commons)

Folge 2: Warum Josquin?

War Martin Luther Josquins PR-Agent? Was verraten uns die Noten, die Hieronymus Bosch auf einen nackten Hintern malte? War Josquin der Retter der polyphonen Kirchenmusik, oder einfach nur ein Fiesling? In der zweiten Folge von Master of the Notes reisen Shirley und Willem auf den Spuren Josquins von Antwerpen nach Mailand und Rom, um herauszufinden, warum ausgerechnet er als „der Noten Meister“ gefeiert wurde. Was genau hatte er seinen Zeitgenossen voraus und verschaffte ihm einen Ruf, der ein halbes Jahrtausend überdauern sollte?

Ausschnitt aus Hieronymus Boschs Garten der irdischen Freuden, ca. 1500 (© Creative Commons)

Folge 3: Im Spinnennetz

Wer zum Teufel würde für einen Mann arbeiten, der seine eigenen Verwandten verbrannt hatte? Es spricht einiges dafür, dass Josquin genau das tat. Über seine frühen Jahre und die Anfänge seiner internationalen Karriere herrschte für lange Zeit große Unklarheit - in dieser Folge versuchen Shirley Apthorp und Willem Bruls, einige von Josquins ersten Schritten von Cambrai über Aix-en-Provence an die Pariser Sainte Chapelle zurückzuverfolgen.

Die Pariser Sainte Chapelle: Führte seine Karriere den jungen Josquin hierhin?

Folge 4: Stadt der Sackgassen

In der Biblioteca Ambrosiana in Mailand befindet sich das „Portrait eines Musikers“, das einzige erhaltene männliche Portrait von Leonardo da Vinci. Könnte es sich bei der dargestellten Person um Josquin des Prez handeln? Leonardo und Josquin arbeiteten in den späten 1480er Jahren zur gleichen Zeit am Hof der Sforza in Mailand. Also machten sich Shirley und Willem auf den Weg nach Mailand, um mehr über Josquins Zeit dort zu erfahren – gibt es in der Stadt mehr zu finden als Sackgassen?

Leonardo da Vincis (?) Portrait von Josquin des Prez (??) in der Biblioteca Ambrosiana in Mailand (© Creative Commons)

Folge 5: Alle Wege führen nach...

…Rom, wohin sonst. In den 1490er Jahren zieht Josquin mit seinem Mailänder Arbeitgeber Kardinal Ascanio Sforza in die Ewige Stadt und wird Mitglied im Chor der Sixtinischen Kapelle. Wie lebte es sich als päpstlicher Sänger? War Josquin ein frommer Diener im Dienst der Kirche oder ein diplomatisch geschickter Topverdiener, der wusste, wie man es sich gut gehen lässt? Shirley und Willem treffen in Rom auf die unterschiedlichsten Theorien.

Die Ewige Stadt im frühen 16. Jahrhundert (© Universitätsbibliothek Wrocław

Folge 6: Miserere mei

War Josquin ein Anhänger der Lehren Girolamo Savonarolas? In seinem Streben nach religiöser Läuterung brachte der radikale Dominikanermönch in den späten 1490er Jahren für kurze Zeit Florenz unter seine Kontrolle, bevor er schließlich verhaftet wurde und auf dem Scheiterhaufen starb. Hat der manische Reformator einen Nerv bei dem flämischen Komponisten getroffen, vielleicht als krasser Gegensatz zur Freizügigkeit Roms unter dem Borgia-Papst? Shirley und Willem decken interessante Verbindungen zwischen den beiden Männern auf.

Das Savonarola-Denkmal in Ferrara

Folge 7: Delphine in Venedig

Auf dem Höhepunkt der Pandemie reisen Shirley und Willem nach Venedig und genießen den Zauber der fast menschenleeren Stadt mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Schuldgefühlen. In „La Serenissima“ wollen sie mehr über Ottaviano Petrucci erfahren, der hier Ende des 15. Jahrhunderts eine neue Art des Notendrucks erfand. Heute kennt man ihn vielleicht als Namensgeber der IMSLP Petrucci Music Library. Er war auch der erste, der einen ganzen Band mit Musik eines einzigen Komponisten veröffentlichte – richtig geraten: Josquin.

Gentile Bellini, Prozession auf der Piazza San Marco (1496, © Gallerie dell’Accademia Venedig / Creative Commons)

Folge 8: 501 Jahre und kein Ende in Sicht

Er hatte für Könige, Fürsten und Päpste komponiert und an den wichtigsten Höfen Europas gearbeitet. Doch seine letzten Jahre verbrachte Josquin abseits des hektischen Treibens in seiner ruhigen Heimatstadt Condé-sur-l’Escaut. In ihrer letzten Folge kehren auch Shirley und Willem an den Ort zurück, an dem ihre Suche nach Josquin begann, und beleuchten sein Erbe und seinen Einfluss auf Komponist:innen der Vergangenheit und Gegenwart.

Eintrag zu Josquin in Petrus Opmeers Opus chronographicum von 1611 (© Yale University Library)