Willem und ich reisen auf dem Höhepunkt der Pandemie nach Venedig und genießen den Zauber der fast menschenleeren Stadt mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Schuldgefühlen. Man erzählt uns, dass erst vor kurzem Delphine im Canal Grande gesichtet wurden. Und wir lernen, dass wir das Wort Quarantäne den Venezianer:innen zu verdanken haben: Als die Stadt im 14. und 15. Jahrhundert schwer von der Pest heimgesucht wurde, mussten ankommende Schiffe mit Verdachtsfällen an Bord vierzig Tage lang warten, bevor sie in den Hafen einlaufen durften – auf italienisch: „quaranta giorni“.
In „La Serenissima“ wollen wir mehr über Ottaviano Petrucci erfahren. Musiker:innen unter Ihnen kennen seinen Namen vielleicht von der IMSLP Petrucci Music Library. Ohne ihn und seine verrückten Ideen hätten wir heute wahrscheinlich noch nie etwas von Josquin gehört. Der Tüftler aus Fossombrone bat den venezianischen Dogen um ein exklusives Patent zur Veröffentlichung von Musik für zwanzig Jahre. Der Doge stimmte zu, und Petrucci wurde der erste, der mehrstimmige Musik mit beweglichen Lettern druckte und veröffentlichte. Sein allererster Band, die Harmonice Musices Odhecaton von 1501, enthielt Musik von Josquin und anderen Komponisten; der nächste war dann schon ausschließlich Josquins Messen gewidmet, genauso wie die beiden danach. Wir werden nie erfahren, ob Josquin je in Venedig war oder nicht, aber eines ist klar: seine Musik verkaufte sich gut.
Der venezianische Musiker und Wissenschaftler Marco Rosso Salva erzählt uns, dass es zu Petruccis Zeiten eigentlich viel schneller und billiger gewesen wäre, Josquins Musik von Hand zu kopieren. Aber Petrucci ging es um mehr. Venedig war der wichtigste Schifffahrtshafen der Welt, und Petrucci sah eine Gelegenheit, ein exklusives Produkt für den internationalen Export zu schaffen. Seine kleinen Bände waren wunderschön und exquisit gemacht, eine Art Coffee-Table-Buch des 16. Jahrhunderts vielleicht.
Der potenzielle Markt war riesig, erklärt uns der irische Musikwissenschaftler David Bryant. Bryant hat sich in seiner wissenschaftlichen Laufbahn zur Aufgabe gemacht, die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse von Musiker:innen in und um Venedig in der Renaissance und im Barock zu rekonstruieren. Mit einer Vielzahl von Kirchen und Hunderten von Zünften, Palästen, Bruderschaften und Klöstern bot Venedig Berufsmusiker:innen zahlreiche Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und all diese Einrichtungen brauchten Musik – Noten auf Papier – für ihre Feste und Feierlichkeiten. Petrucci wusste genau, was er tat.
Josquins Musik ist untrennbar mit der Entstehung des Musikverlagswesens verbunden und umgekehrt.
Heute ist die Authentizität einiger der Messen, die Petrucci veröffentlichte, umstritten. Aber es ist ziemlich wahrscheinlich, dass Martin Luther ohne Petrucci niemals in der Lage gewesen wäre, Nymphes de bois mit seinen Freunden zu singen, und dass er Josquin niemals zu „der Noten Meister“ hätte erklären können. Josquins Musik ist untrennbar mit der Entstehung des Musikverlagswesens verbunden und umgekehrt.
Willem und ich fragen uns oft, wie die Menschen zu Josquins Zeiten seine Musik hörten. War sie für das einfache Volk lesbar oder nur für die Elite? David Bryant hat sich natürlich mit dieser Frage beschäftigt. Er nutzt die einzigartige Akustik des Markusdoms in Venedig, um zu zeigen, dass nur die Oberschicht die Musik wirklich deutlich hören konnte; die normalen Menschen saßen zu weit vom akustischen „sweet spot“ entfernt, um einen genauen Höreindruck zu bekommen.
Dagegen vertritt Marco Rosso Salvo die Ansicht, dass die emotionale Wirkung von Josquins Musik, die heute so stark ist wie eh und je, von den einfachen Zuhörer:innen an vielen Orten, an denen sie aufgeführt wurde, auch wahrgenommen wurde. „Er brachte zwei Dinge zusammen“, so Salvo, „die gelehrte Technik und die tiefste Menschlichkeit, in der er seine Musik schreibt. Ich habe erst vor ein paar Tagen Nymphes de bois im Radio gehört. Es wurde gespielt, um der Menschen zu gedenken, die während der Covid-Pandemie gestorben sind. Und ich muss gestehen, dass ich geweint habe, weil es so menschlich ist, diese Musik ist einfach so sorgfältig gemacht. Voller Kanons, voller sehr komplizierter Kontrapunkte und so weiter. Aber gleichzeitig auch sehr berührend.“
Warum zog sich Josquin, dessen internationaler Ruhm so schnell wuchs, für die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens in seine Heimat Condé-sur-l'Escaut zurück? Was für ein Leben hat er dort geführt? Warum hinterließ er uns sein Pater Noster? Und was ist sein Vermächtnis? In unserer nächsten und letzten Folge versuchen wir es herauszufinden.
Master of the Notes ist eine Produktion von Max Music Media im Auftrag des Pierre Boulez Saals, geschrieben von Shirley Apthorp und Willem Bruls.
Shirley Apthorp wurde in Südafrika geboren, wuchs in Australien auf und studierte Musik an der University of Tasmania. Seit 1996 lebt sie in Berlin und schreibt über Musik für zahlreiche internationale Medien, darunter die Financial Times (UK), Bloomberg (USA) und Opernwelt. Ihre Arbeiten wurden in Großbritannien, in den USA, Australien, Deutschland, Österreich, Japan, Brasilien, den Niederlanden, Norwegen und Südafrika veröffentlicht. Im Jahr 2010 gründete sie die preisgekrönte Non-Profit-Organisation Umculo, die mit Musiktheaterprojekten die gesellschaftliche Entwicklung in Südafrika unterstützt. 2019 wurde Shirley Apthorp mit dem Classical:NEXT Innovation Award ausgezeichnet.
Willem Bruls studierte Literatur und Kunstgeschichte und arbeitet als Dramaturg, Autor, Musikkritiker und Librettist. Er veröffentlichte mehrere Bücher und zahlreiche Essays zu einer Vielzahl von Themen, darunter eine Studie über Wagners Ring-Zyklus und zum Thema Orientalismus in der Oper. Er arbeitete mit Regisseuren wie Guy Cassiers und Pierre Audi zusammen und führte bei mehreren Musiktheaterproduktionen selbst Regie. Für die Ruhrtriennale schrieb er eine Bühnenadaption von Pasolinis Teorema. Er gab Workshops über zeitgenössisches Musiktheater, Librettoschreiben und Jugendtheater in ganz Europa und ist Berater für darstellende Künste beim niederländischen Kulturrat.
Credits
Die Musik für diesen Podcast wurde komponiert von Karim Said und aufgenommen von Angela Boutros, Elias Aboud, Roshanak Rafani und Joseph Protze an der Barenboim-Said Akademie.
Auszüge aus Josquin des Prez, Missa De beata virgine und Missa Fortuna desperata, aufgenommen von Peter Phillips & The Tallis Scholars © Gimell Records.
Im Fall bestehender und nicht berücksichtiger Urheberrechte bitten wir den/die Rechteinhaber um Nachricht.