In einer seiner Tischreden im Jahr 1538 erklärte Martin Luther:
Josquin ist der noten meister, die habens machen müssen, wie er wollt; die anderen Sangmeister müssens machen, wie es die noten haben wöllen. Freylich hat der Componist auch seyn guten geyst gehabt [...] sonderlich, da er das Haec dicit Dominus und das Circumdederunt me, wercklich und lieblich in einander richtet.
Luther sprach von Josquins sechsstimmiger Motette Nymphes, nappés, die er mit einigen Freunden gesungen hatte. Er wollte, dass sie an seinem Sterbebett aufgeführt wird. Obwohl Josquins Musik zu dieser Zeit bereits sehr populär war, hat Luthers Unterstützung den Ruf des Komponisten ganz sicher auf ein neues Niveau gehoben. Wäre er auch ohne Luthers Lob so berühmt geworden?
Der Renaissance-Forscher und Musiker Stratton Bull erinnert uns in Antwerpen an einen wichtigen kulturellen Diskurs der Zeit, den man im Hinterkopf behalten muss, wenn man über diese Frage nachdenkt: die ambivalente Rolle, die die Polyphonie, und insbesondere Vokalpolyphonie wie die Josquins, in der Kirchenmusik spielte. War sie göttlich inspiriert, oder verrucht sinnlich und irdisch? In Hieronymus Boschs berühmtem Triptychon Der Garten der irdischen Freuden, das heute im Prado in Madrid zu sehen ist, versammeln sich gequälte Seelen, um Musik zu singen, die auf das nackte Hinterteil einer dämonischen Figur geschrieben ist. Half Josquins reine Polyphonie die Überzeugung zu verbreiten, dass mehrstimmige Musik nicht unbedingt etwas Verwerfliches ist?
David Burn, Leiter der Forschungsgruppe für Alte Musik an der Universität im nahe gelegenen Leuven, ist der Ansicht, dass Josquins Musik gar nicht unbedingt besser oder schlechter war als die vieler seiner Zeitgenossen, sondern dass sein Ruhm vielmehr Martin Luthers Gütesiegel in Verbindung mit der eher zufälligen Verbreitung seiner Werke in Drucken zu verdanken ist. Aber natürlich ist nicht jeder dieser Meinung. Mit Willem Elders, einem Urgestein der Josquin-Forschung, sprechen wir über die Einzigartigkeit von Josquins Musik und reisen nach Italien, wo wir Raffaele Mellace in Mailand und Guido Zaccagnini in Rom treffen – beide sind Musikwissenschaftler und davon überzeugt, dass der Schlüssel zu Josquins anhaltendem Erfolg in seiner Musik selbst zu finden ist und dass sein internationaler Lebensstil dazu beigetragen hat, seinen Stil so zugänglich zu machen.
Der britische Sänger und Autor Donald Greig hat eine ganz andere Theorie über Josquins Schlüssel zum Erfolg: dass er in Wirklichkeit ein absolut unliebsamer Zeitgenosse war, talentiert, aber verbittert und rücksichtslos ehrgeizig. Diese Theorie führt er in seinem Roman Time Will Tell weiter aus. „Ich gehe von Anfang an sehr hart mit Josquin ins Gericht,“ sagt Donald. „Und ich war mir bewusst, dass ich eine Figur verunglimpfe, die viele Leute verehren – ich übrigens auch, seine Musik ist was Besonderes. Aber ich dachte mir, wenn jemandes Ruf es verkraften kann, dass jemand so über ihn herfällt, dann ist es sicherlich Josquin.“
Es überrascht nicht, dass Peter Phillips, Gründer und Leiter der Tallis Scholars und spiritus rector dieses Projekts am Pierre Boulez Saal, Donald Greig entschieden widerspricht. Ist es fair, fragt er, die längst verstorbenen Größen nicht zu respektieren? Josquin, so meint er, hat ein ebenso bedeutendes Werk wie Beethoven hinterlassen; die Messen von Josquin sind mit den Symphonien von Beethoven vergleichbar.
„Man begreift nicht ganz, was Josquin auf der letzten Seite macht – es lässt einem den Kopf explodieren, wenn man sieht, was da passiert.“ – Jesse Rodin
Schließlich sprechen wir mit dem amerikanischen Musikwissenschaftler und Josquin-Forscher Jesse Rodin, der uns Josquins Nymphes, nappés vorstellt, das Stück, das Martin Luther so beeindruckte. Gerade erst unterrichtete er ein Josquin-Seminar und analysierte das Stück mit seinen Studierenden: „Es ist einfach wunderschön. Aber was man nicht ganz begreift, ist das, was Josquin auf der letzten Seite macht – es lässt einem den Kopf explodieren, wenn man sieht, was da passiert. Allein die einfache Idee, ein kleines Motiv, eine kleine melodische Zelle zu nehmen und sie immer wieder zu wiederholen, in verschiedenen Stimmen und verschiedenen Kombinationen. Das war wirklich absolut neu. Und Josquin scheint das, mehr als jeder andere, erfunden zu haben.“
Jesse Rodin kann, wie so viele andere auch, genau nachvollziehen, was an Josquins Motette Martin Luther so begeisterte, als er und seine Freunde sie zum ersten Mal sangen. Natürlich rettete Luther Josquin nicht aus der Vergessenheit; er war bereits sehr berühmt. Irgendwie hatte sein Werk zu seinen Lebzeiten so viel Bekanntheit erlangt, dass er quer durch Europa von einem erhabenen Hof zum nächsten ziehen konnte. Ob dies nun, wie Donald Greig meint, durch kühle Berechnung und Ehrgeiz oder, wie Peter Phillips überzeugt ist, durch beispiellose Genialität geschah – Tatsache ist, dass Josquins Musik um 1500 in ganz Europa mit Begeisterung konsumiert und kopiert wurde.
Als Nächstes werden wir einen genaueren Blick auf Josquins frühe Jahre werfen – wie wichtig war seine Zeit in Frankreich für das, was später kam?
Master of the Notes ist eine Produktion von Max Music Media im Auftrag des Pierre Boulez Saals, geschrieben von Shirley Apthorp und Willem Bruls.
Shirley Apthorp wurde in Südafrika geboren, wuchs in Australien auf und studierte Musik an der University of Tasmania. Seit 1996 lebt sie in Berlin und schreibt über Musik für zahlreiche internationale Medien, darunter die Financial Times (UK), Bloomberg (USA) und Opernwelt. Ihre Arbeiten wurden in Großbritannien, in den USA, Australien, Deutschland, Österreich, Japan, Brasilien, den Niederlanden, Norwegen und Südafrika veröffentlicht. Im Jahr 2010 gründete sie die preisgekrönte Non-Profit-Organisation Umculo, die mit Musiktheaterprojekten die gesellschaftliche Entwicklung in Südafrika unterstützt. 2019 wurde Shirley Apthorp mit dem Classical:NEXT Innovation Award ausgezeichnet.
Willem Bruls studierte Literatur und Kunstgeschichte und arbeitet als Dramaturg, Autor, Musikkritiker und Librettist. Er veröffentlichte mehrere Bücher und zahlreiche Essays zu einer Vielzahl von Themen, darunter eine Studie über Wagners Ring-Zyklus und zum Thema Orientalismus in der Oper. Er arbeitete mit Regisseuren wie Guy Cassiers und Pierre Audi zusammen und führte bei mehreren Musiktheaterproduktionen selbst Regie. Für die Ruhrtriennale schrieb er eine Bühnenadaption von Pasolinis Teorema. Er gab Workshops über zeitgenössisches Musiktheater, Librettoschreiben und Jugendtheater in ganz Europa und ist Berater für darstellende Künste beim niederländischen Kulturrat.
Credits
Die Musik für diesen Podcast wurde komponiert von Karim Said und aufgenommen von Angela Boutros, Elias Aboud, Roshanak Rafani und Joseph Protze an der Barenboim-Said Akademie.
Auszüge aus Josquin des Prez, Nymphes, nappés / Circumdederunt me, aufgenommen von Cinquecento © mit freundlicher Genehmigung von Hyperion Records Ltd., London.
Auszug aus Josquin des Prez, Missa Pange lingua, aufgenommen von den Tallis Scholars & Peter Phillips © Gimell Records.
Auszug aus Josquin des Prez, Nymphes des bois, aufgenommen von Cappella Pratensis & Joshua Rifkin © Challenge Records, 2010.
Auszug aus Josquin des Prez, Scaramella va a la guerra, aufgenommen von Ensemble Clément Janequin & Dominique Visse © mit freundlicher Genehmigung von harmonia mundi.
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