Missa Une mousse de Biscaye

Die spätmittelalterlichen Wurzeln von Josquins Musiksprache sind hier vielleicht am deutlichsten zu hören.

In der Josquin-Forschung besteht kaum Uneinigkeit darüber, dass es sich bei der Missa Une mousse de Biscaye, die wahrscheinlich um 1475 in Frankreich entstand, entweder um Josquins erste oder – nach der Missa L’ami Baudichon – zweite Vertonung des Messordinariums handelt. Sie basiert auf einer weltlichen Melodie mit einem Text in französischer und baskischer Sprache. Das französische Wort „mousse“ im Titel leitet sich vom kastilischen Wort „moza“ ab, was „Mädchen“ bedeutet; die Biskaya ist eine Provinz im Norden Spaniens, die zum Baskenland gehört und deren Hauptstadt Bilbao ist. Das Lied ist ein Dialog zwischen einem jungen Mann, der Französisch spricht, und einem baskischen Mädchen, das auf alle seine amourösen Anträge mit dem rätselhaften Refrain „Soaz, soaz, ordonarequin“ reagiert. Die Verwirrung in der Kommunikation des Pärchens könnte das tonale Umherwandern des Liedes erklären, das in F beginnt, dann schnell in G kadenziert, nach F zurückkehrt, doch schließlich in B endet.

Wie bei einem Frühwerk nicht anders zu erwarten, ist Une mousse de Biscaye voll von eigenwilligen Details.

Wie bei einem Frühwerk nicht anders zu erwarten, ist die Missa Une mousse de Biscaye voll von eigenwilligen Details. So ist das beispielsweise das Agnus Dei eine exakte Wiederholung des Kyrie – einmalig in Josquins Messvertonungen. Verglichen mit späteren Standards finden sich einige „ungrammatikalische“ Dissonanzen und Auflösungen, und bis zu einem gewissen Grad spiegelt die Messe auch die modale Unsicherheit des Originals wieder, die ihre Klangwelt von der späterer Werke abhebt: Durchweg treten Töne im Tritonusabstand (E und B, Es und A) gemeinsam auf. Oft werden solche Sonderbarkeiten als Zeichen kompositorischer Unreife gedeutet. Ich als Dirigent kann dagegen bezeugen, wie effektvoll sie sein können – z.B. der Einsatz des Alts in Takt 64 des Sanctus (bei „Pleni sunt caeli“) auf einem E, der ausgefallen klingt und schwer zu intonieren ist, aber für echten Nervenkitzel sorgt.

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Die Missa Une mousse de Biscaye im sog. Maximiliankodex, um 1510 (© Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. 15495)

Die Melodie der Chanson wird in Une mousse de Biscaye recht frei behandelt – sie erklingt zu unterschiedlichen Zeitpunkten in allen Stimmen und mit verschiedenen Erweiterungen und Ausschmückungen. Eben diese Erweiterungen verleihen der Komposition ihren fantasieartigen Charme, insbesondere im Credo, das im Vergleich mit den anderen Teilen ungewöhnlich lang ausfällt. Es enthält eines der extremsten Beispiele mathematischer Cantus-Firmus-Verarbeitung, die man sich vorstellen kann: Die Melodie wird gleichzeitig in vierfacher Augmentation und in Umkehrung zitiert. Das stellt die Tenöre vor erhebliche Probleme, da sie nicht nur sehr tief – aufgrund der Umkehrung –, sondern wegen der Verlängerung der Notenwerte auch minutenlang quasi ohne Atempause singen müssen. Die resultierende Klangwirkung ist dafür aber besonders einprägsam – ein tiefer Bordun, dunkel und gedämpft, oftmals noch unterhalb der Bassstimme.

© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Viola Scheffel





Die Messen

Die Messen

Jan van Eyck, Genter Altar (1432, Ausschnitt) © artinflanders.be (Foto: Hugo Maertens, Dominique Provost)

Achtzehn Mal hat Josquin den Text des lateinischen Messordinariums in Musik gesetzt und dabei für jede seiner Vertonungen eine ganz eigene kompositorische Methode und Klangwelt geschaffen. Lernen Sie die musikalische Vielfalt der Messen mit den preisgekrönten Aufnahmen der Tallis Scholars und Essays ihres Gründers und künstlerischen Leiters Peter Phillips kennen.

Missa Une mousse de Biscaye

Die spätmittelalterlichen Wurzeln von Josquins Musiksprache sind in der Missa Une Mousse de Biscaye, einer seiner ersten Messvertonungen überhaupt, vielleicht am deutlichsten zu hören.

Missa L’ami Baudichon

Schon zu Beginn seiner Laufbahn experimentierte Josquin in der frühen Missa L’ami Baudichon mit den Möglichkeiten der Form.

Missa Ad fugam

Komplexe Kanons waren für alle Komponisten des 15. Jahrhunderts eine wichtige Bewährungsprobe. Josquin schrieb zwei Messen, die vollständig auf Kanons basieren – Ad fugam, die frühere der beiden, ist womöglich sein mathematisch strengstes Werk.

Missa Di dadi

Kann man eine Renaissance-Messe durch Auswürfeln komponieren? Die Missa Di dadi zeigt Josquins Leidenschaft für mathematische Spielereien – und für das Glücksspiel.

Missa D’ung aultre amer

Josquins kürzeste Messvertonung basiert auf einer Chanson seines Lehrers Johannes Ockeghem und enthält eine bewegende musikalische Verneigung vor dem älteren Komponisten.

Missa Gaudeamus

Die Missa Gaudeamus verkörpert die Kunstfertigkeit der Renaissance in ihrer intensivsten Form. Ausgehend von einer umfangreichen Choralmelodie kommen hier ausgeklügelte und tatsächlich hörbare mathematische Kompositionsverfahren zum Einsatz.

Missa La sol fa re mi

Der Name ist Programm: Missa La sol fa re mi basiert auf den fünf Noten, die diesen Solmisationssilben im mittelalterlichen Tonsystem entsprechen. Mit einem derart kurzen und vielseitigen Motiv eröffnete sich Josquin ungeahnte Möglichkeiten der musikalischen Bezüge und Verweise.

Missa Hercules Dux Ferrariae

Für seinen damaligen Arbeitgeber Herzog Ercole I. von Ferrara verwandelte Josquin kurzerhand dessen Namen in ein musikalisches Motiv und komponierte auf dieser Grundlage eine ganze Messe.

Missa Faysant regretz

Aus einem einfachen Viertonmotiv konstruiert Josquin in der Missa Faysant regretz seine vielleicht dichteste und mitreißendste Polyphonie, eine Welt von vielgestaltigen, umherwirbelnden Anspielungen und Verweisen.

Missa Ave maris stella

Kompakt, geschmeidig, prägnant – die Missa Ave maris stella ist das Werk eines sehr selbstbewussten Komponisten, der nicht nur sein Handwerkszeug souverän beherrscht, sondern seiner ganzen Zunft den Weg in die Zukunft weist.

Missa Fortuna desperata

Das Rad der Fortuna dreht sich in Josquins Missa Fortuna desperata – einer der ersten Messen überhaupt, die nicht mehr auf einer einfachen Melodie, sondern auf einer mehrstimmigen Vorlage basieren.

Missa L’homme armé super voces musicales

In der Missa L’homme armé super voces musicales finden sich einige von Josquins mathematisch komplexesten Kompositions-Kniffen – eine Demonstration seiner kombinatorischen Fähigkeiten und ein echtes Wunderwerk für seine Zeitgenossen.

Missa L’homme armé sexti toni

Josquins zweite Messvertonung auf Grundlage der populären L’homme-armé-Melodie wirkt wie eine freie Fantasie über das Lied vom „bewaffneten Mann“ – die große Bandbreite an Texturen und scheinbar mühelos gesetzte Kanons erinnern an minimalistische Klangwelten à la Philip Glass.

Missa Malheur me bat

Viele von Josquins Messvertonungen finden ihren Höhepunkt im letzten Satz, nicht unähnlich einer romantischen Symphonie: Das Agnus Dei der Missa Malheur me bat ist ein beeindruckendes Beispiel dafür.

Missa Sine nomine

Die „namenlose“ Missa Sine nomine ist Josquins zweite rein kanonische Messe und zeigt seine ganze Erfahrung mit mathematischen Kompositionstechniken.

Missa De beata virgine

Zu Josquins Lebzeiten wurde diese Messe von allen seinen Werken wahrscheinlich am häufigsten aufgeführt – und sie faszinierte die Musiktheoretiker noch bis ins 18. Jahrhundert.

Missa Mater Patris

Missa Mater Patris steht für die kühne Schlichtheit des späten Josquin: Kein dichtes polyphones Geflecht mehr, sondern lichte, offene Strukturen, viel Witz und Verspieltheit.

Missa Pange lingua

Wahrscheinlich ist sie Josquins letzte Messe – ganz sicher aber eine seiner besten: Die Gleichberechtigung aller vier Stimmen in der Missa Pange lingua hat den weiteren Verlauf der europäischen Musikgeschichte entscheidend geprägt.