Missa Ave maris stella

Kompakt, geschmeidig, prägnant.

Wenn man die üblichen Charakteristika akzeptiert, die oft der mittleren Schaffensperiode im Leben von Künstlerinnen und Künstlern zugeschrieben werden, dann illustriert die Missa Ave maris stella eine ganze Reihe davon. Ihr liegt eine berühmte Choralmelodie zugrunde, die sich in beiden Agnus Deis zu jeweils drei Kanons entfaltet. Der Satz ist allgemein geschmeidig und sicher geführt, sodass man den Eindruck gewinnt, dass Josquin hier mittlerweile entspannter und sicherer mit Techniken umgeht, die er bereits zuvor in jugendlicherer Art und Weise erprobt hatte. Seine Behandlung der Choralmelodie „Ave maris stella“ demonstriert vorbildlich, wie Motive, die einem Cantus firmus entstammen, über eine große Spannweite hinweg strukturell zu verarbeiten sind. Dies geschieht zuweilen in Imitation, doch sind die Querverweise derart vielgestaltig (man könnte fast sagen symphonisch), dass deutlich wird, dass auf diesen Knochen kaum Fett ist.

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Der Choral Ave maris stella

Meine Lieblingsstelle, was die motivische Straffheit anbelangt, ist das „Amen“ des Gloria. Es ist nur neun Takte lang, doch tut sich hier ein ganzes Spektrum der Perfektion auf: das Motiv wird zunächst als Duett präsentiert, dann als Trio und schließlich in einem Durcheinander, in dem alle vier Stimmen zum Einsatz kommen.

Man hat den Eindruck, dass Josquin hier entspannter und sicherer mit Techniken umgeht, die er bereits zuvor in jugendlicherer Art und Weise erprobt hatte.

Der Satz ist derart dicht gearbeitet, dass die Agnus-Dei-Kanons beginnen, bevor man sie überhaupt bewusst wahrnimmt. In dem Sinne könnte diese Vertonung durchaus als Missa Brevis bezeichnet werden. Seltsamerweise erlaubt Josquin sich Erweiterungen seiner Anlage nur im Sanctus, und zwar mit einem ungewöhnlich langen Trio bei „Pleni sunt caeli“, Duetten im Benedictus und einem großen Hosanna. Das Agnus Dei transportiert einen dann sofort in andere Gefilde und das zentrale Motiv, das inzwischen fest etabliert ist, dreht sich immer wieder um sich selbst wie die Sphärenmusik. Hier zeigt sich Josquin sicherlich von seiner phantasievollsten und inspiriertesten Seite.

© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Viola Scheffel

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Zeitgenössische Abschrift der Missa Ave maris stella, um 1520 (© Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. 4809)

Die Messen

Die Messen

Jan van Eyck, Genter Altar (1432, Ausschnitt) © artinflanders.be (Foto: Hugo Maertens, Dominique Provost)

Achtzehn Mal hat Josquin den Text des lateinischen Messordinariums in Musik gesetzt und dabei für jede seiner Vertonungen eine ganz eigene kompositorische Methode und Klangwelt geschaffen. Lernen Sie die musikalische Vielfalt der Messen mit den preisgekrönten Aufnahmen der Tallis Scholars und Essays ihres Gründers und künstlerischen Leiters Peter Phillips kennen.

Missa Une mousse de Biscaye

Die spätmittelalterlichen Wurzeln von Josquins Musiksprache sind in der Missa Une Mousse de Biscaye, einer seiner ersten Messvertonungen überhaupt, vielleicht am deutlichsten zu hören.

Missa L’ami Baudichon

Schon zu Beginn seiner Laufbahn experimentierte Josquin in der frühen Missa L’ami Baudichon mit den Möglichkeiten der Form.

Missa Ad fugam

Komplexe Kanons waren für alle Komponisten des 15. Jahrhunderts eine wichtige Bewährungsprobe. Josquin schrieb zwei Messen, die vollständig auf Kanons basieren – Ad fugam, die frühere der beiden, ist womöglich sein mathematisch strengstes Werk.

Missa Di dadi

Kann man eine Renaissance-Messe durch Auswürfeln komponieren? Die Missa Di dadi zeigt Josquins Leidenschaft für mathematische Spielereien – und für das Glücksspiel.

Missa D’ung aultre amer

Josquins kürzeste Messvertonung basiert auf einer Chanson seines Lehrers Johannes Ockeghem und enthält eine bewegende musikalische Verneigung vor dem älteren Komponisten.

Missa Gaudeamus

Die Missa Gaudeamus verkörpert die Kunstfertigkeit der Renaissance in ihrer intensivsten Form. Ausgehend von einer umfangreichen Choralmelodie kommen hier ausgeklügelte und tatsächlich hörbare mathematische Kompositionsverfahren zum Einsatz.

Missa La sol fa re mi

Der Name ist Programm: Missa La sol fa re mi basiert auf den fünf Noten, die diesen Solmisationssilben im mittelalterlichen Tonsystem entsprechen. Mit einem derart kurzen und vielseitigen Motiv eröffnete sich Josquin ungeahnte Möglichkeiten der musikalischen Bezüge und Verweise.

Missa Hercules Dux Ferrariae

Für seinen damaligen Arbeitgeber Herzog Ercole I. von Ferrara verwandelte Josquin kurzerhand dessen Namen in ein musikalisches Motiv und komponierte auf dieser Grundlage eine ganze Messe.

Missa Faysant regretz

Aus einem einfachen Viertonmotiv konstruiert Josquin in der Missa Faysant regretz seine vielleicht dichteste und mitreißendste Polyphonie, eine Welt von vielgestaltigen, umherwirbelnden Anspielungen und Verweisen.

Missa Ave maris stella

Kompakt, geschmeidig, prägnant – die Missa Ave maris stella ist das Werk eines sehr selbstbewussten Komponisten, der nicht nur sein Handwerkszeug souverän beherrscht, sondern seiner ganzen Zunft den Weg in die Zukunft weist.

Missa Fortuna desperata

Das Rad der Fortuna dreht sich in Josquins Missa Fortuna desperata – einer der ersten Messen überhaupt, die nicht mehr auf einer einfachen Melodie, sondern auf einer mehrstimmigen Vorlage basieren.

Missa L’homme armé super voces musicales

In der Missa L’homme armé super voces musicales finden sich einige von Josquins mathematisch komplexesten Kompositions-Kniffen – eine Demonstration seiner kombinatorischen Fähigkeiten und ein echtes Wunderwerk für seine Zeitgenossen.

Missa L’homme armé sexti toni

Josquins zweite Messvertonung auf Grundlage der populären L’homme-armé-Melodie wirkt wie eine freie Fantasie über das Lied vom „bewaffneten Mann“ – die große Bandbreite an Texturen und scheinbar mühelos gesetzte Kanons erinnern an minimalistische Klangwelten à la Philip Glass.

Missa Malheur me bat

Viele von Josquins Messvertonungen finden ihren Höhepunkt im letzten Satz, nicht unähnlich einer romantischen Symphonie: Das Agnus Dei der Missa Malheur me bat ist ein beeindruckendes Beispiel dafür.

Missa Sine nomine

Die „namenlose“ Missa Sine nomine ist Josquins zweite rein kanonische Messe und zeigt seine ganze Erfahrung mit mathematischen Kompositionstechniken.

Missa De beata virgine

Zu Josquins Lebzeiten wurde diese Messe von allen seinen Werken wahrscheinlich am häufigsten aufgeführt – und sie faszinierte die Musiktheoretiker noch bis ins 18. Jahrhundert.

Missa Mater Patris

Missa Mater Patris steht für die kühne Schlichtheit des späten Josquin: Kein dichtes polyphones Geflecht mehr, sondern lichte, offene Strukturen, viel Witz und Verspieltheit.

Missa Pange lingua

Wahrscheinlich ist sie Josquins letzte Messe – ganz sicher aber eine seiner besten: Die Gleichberechtigung aller vier Stimmen in der Missa Pange lingua hat den weiteren Verlauf der europäischen Musikgeschichte entscheidend geprägt.