Wenn man die üblichen Charakteristika akzeptiert, die oft der mittleren Schaffensperiode im Leben von Künstlerinnen und Künstlern zugeschrieben werden, dann illustriert die Missa Ave maris stella eine ganze Reihe davon. Ihr liegt eine berühmte Choralmelodie zugrunde, die sich in beiden Agnus Deis zu jeweils drei Kanons entfaltet. Der Satz ist allgemein geschmeidig und sicher geführt, sodass man den Eindruck gewinnt, dass Josquin hier mittlerweile entspannter und sicherer mit Techniken umgeht, die er bereits zuvor in jugendlicherer Art und Weise erprobt hatte. Seine Behandlung der Choralmelodie „Ave maris stella“ demonstriert vorbildlich, wie Motive, die einem Cantus firmus entstammen, über eine große Spannweite hinweg strukturell zu verarbeiten sind. Dies geschieht zuweilen in Imitation, doch sind die Querverweise derart vielgestaltig (man könnte fast sagen symphonisch), dass deutlich wird, dass auf diesen Knochen kaum Fett ist.
Meine Lieblingsstelle, was die motivische Straffheit anbelangt, ist das „Amen“ des Gloria. Es ist nur neun Takte lang, doch tut sich hier ein ganzes Spektrum der Perfektion auf: das Motiv wird zunächst als Duett präsentiert, dann als Trio und schließlich in einem Durcheinander, in dem alle vier Stimmen zum Einsatz kommen.
Man hat den Eindruck, dass Josquin hier entspannter und sicherer mit Techniken umgeht, die er bereits zuvor in jugendlicherer Art und Weise erprobt hatte.
Der Satz ist derart dicht gearbeitet, dass die Agnus-Dei-Kanons beginnen, bevor man sie überhaupt bewusst wahrnimmt. In dem Sinne könnte diese Vertonung durchaus als Missa Brevis bezeichnet werden. Seltsamerweise erlaubt Josquin sich Erweiterungen seiner Anlage nur im Sanctus, und zwar mit einem ungewöhnlich langen Trio bei „Pleni sunt caeli“, Duetten im Benedictus und einem großen Hosanna. Das Agnus Dei transportiert einen dann sofort in andere Gefilde und das zentrale Motiv, das inzwischen fest etabliert ist, dreht sich immer wieder um sich selbst wie die Sphärenmusik. Hier zeigt sich Josquin sicherlich von seiner phantasievollsten und inspiriertesten Seite.
© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Viola Scheffel