Nur drei Messen Josquins basieren auf einem sogenannten soggetto ostinato – einem derart kurzen Motiv, dass man es kaum als Melodie bezeichnen kann. Im Fall der Missa La sol fa re mi ist das Motiv aus den Noten gebildet, die diesen Solmisationssilben im mittelalterlichen Tonsystem entsprachen: A, G, F, D und E.
Im Grunde beruht die ganze Messe auf dieser einen Fünfton-Phrase, die man deutlich heraushören kann, in verschiedenen Längen und manchmal auch in verschiedenen Lagen innerhalb der einzelnen Stimmen. Meist ist diese Wendung im Tenor zu finden, der sich, was den verwendeten Tonvorrat betrifft, nicht grundlegend vom Alt unterscheidet. Eine ganze Messe zu komponieren, die sich strikt an ein fünftöniges Motiv – als eine Art abgebrochener cantus firmus – hält, ist eine Meisterleistung der Erfindungskraft.
Allerdings war Josquin war nicht der Erste, der die Idee hatte, genau diese Töne zu verwenden. Glarean berichtete 1547 in seinem Dodekachordon, dass sich hinter ihnen die Worte „Lascia fare mi“ („Überlassen Sie das mir“) eines unbekannten Würdenträgers verbargen, der sich damit aufdringlicher Besucher entledigte. Egal ob dies den Tatsachen entspricht oder nicht, eine ganze Reihe von Liedern der Zeit basiert auf diesen fünf Tönen.
Das Motiv rauscht unzählige Male an den Hörerinnen und Hörern vorbei, ohne dass man die Kunstfertigkeit, die dahinter steckt, überhaupt richtig wahrnimmt.
Indem Josquin ein so kurzes Motiv als Grundlage wählte – im Gegensatz zu einer Choralmelodie, deren Länge prinzipiell keine Grenze gesetzt war –, eröffnete er sich ungeahnte Möglichkeiten der Bezüge und Verweise. Diese fünf Noten lassen sich problemlos verlängern, verkürzen, auf den Kopf stellen, von hinten nach vorne zitieren, gleichzeitig in unterschiedlichen Rhythmen und Hexachorden übereinander stapeln. Dank der Kürze des Motivs bringt auch das etwas altmodisch im Stil einer cantus-firmus-Messe gesetzte Credo mit langen Notenwerten im Tenor den musikalischen Fluss nicht zum Stocken, wie es in anderen Credo-Vertonungen dieser Art oft der Fall ist.
Gleichzeitig rauscht das Motiv in kürzerer Form unzählige Male an den Hörerinnen und Hörern vorbei, ohne dass man die Kunstfertigkeit, die dahinter steckt, überhaupt richtig wahrnimmt. Neben dem Tenor, der fast ausschließlich auf dem soggetto beruht, setzte Josquin es auch in den übrigen Stimmen in den Anfangsimitiationen ein, wie etwa im „Christe“ oder im ersten „Hosanna“. Das „Pleni sunt caeli“ ist durchwegs kontrapunktisch im imitierenden Satz gestaltet
Nur ein einziges Mal, im Bass am Ende des „Christe“, setzt das immer wiederkehrende Modell transponiert auf D ein. Bei den mehr als zweihundert anderen Wiederholungen beginnt es auf A oder E. Die wahrscheinlich schönste Stelle findet sich ganz am Schluss des Agnus Dei (I und III), wenn die Notenwerte des Ostinato-Modells sich immer weiter verkürzen und dadurch die geheimnisvolle Wirkung dieser Musik noch verstärkt wird.
© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Gerd Hüttendorfer