Missa Sine nomine

Josquins zweite rein kanonische Messe

Die Missa Sine nomine ist neben der Missa Ad fugam eine von nur zwei Messen Josquins, die durchweg auf Kanons basieren. Er schrieb weitere Einzelsätze, die Kanons sind – das zweite Agnus Dei in seiner Missa L’homme armé super voces musicales ist ein besonders komplexes Beispiel dafür –, aber nur hier schöpfte er die Möglichkeiten so ausführlich aus, wie es die Musiksprache der Zeit zuließ. Diese Art, Musik zu schreiben, mag uns heute etwas akademisch erscheinen: Wer ist schon an einem mathematischen Gerüst interessiert, das für die meisten sowieso unhörbar bleibt? Josquin war es – so wie viele Komponistinnen und Komponisten nach ihm von Bach über Brahms bis zu Webern –, und es ist offensichtlich, dass ihn die Herausforderung, die die Bindung an ein solch strenges Muster mit sich bringt, besonders reizte.

Sine nomine, möglicherweise eine von Josquins letzten Messvertonungen vor der großen Missa Pange lingua, zeigt wie keine andere die Früchte seiner langen Erfahrung mit mathematischen Kompositionstechniken.

Die beiden rein kanonischen Messen scheinen an den entgegengesetzten Enden von Josquins kompositorischer Laufbahn entstanden zu sein. Ad fugam, einem frühem Werk, ist leichter zu folgen; Sine nomine, eine seiner letzten Messvertonungen vor der großen Missa Pange lingua, zeigt wie keine andere die Früchte seiner langen Erfahrung mit mathematischen Kompositionstechniken. Tatsächlich ist Ad fugam so viel einfacher gehalten, dass Josquin die spätere Sine nomine durchaus als Gegenstück zu ihr konzipiert haben könnte, um zu demonstrieren, wie viel besser er diese Verfahren nun, gegen Ende seines Lebens, beherrschte.

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Josquins Missa Sine nomine in einer zeitgenössischen Handschrift (© Österreichische Nationalbibliothek)

Das hat ihm wahrscheinlich mehr bedeutet als wir heute ermessen können: Alle flämischen Komponisten vor Josquin hatten ihr Können mit kanonischen Kompositionen unter Beweis gestellt – allen voran Johannes Ockeghem (um 1420–1497) als leuchtendes Beispiel. Wenn es stimmt, dass Josquin bei Ockeghem in die Lehre ging, ist es gut möglich, dass er sich diese Tour de force aufhob, um zu zeigen, dass er es seinem Meister gleichtun konnte. Tatsächlich findet sich für diese persönliche Verbindung ein weiteres Indiz: Im Credo von Sine nomine zitiert Josquin bei „Et incarnatus est“ aus seinem Klagelied Nymphes des bois, das er auf den Tod von Ockeghem geschrieben hatte.

Anders als in Ad fugam, in der sich der Kanon immer strikt zwischen Oberstimme und dritter Stimme und immer Quintabstand abspielt, sind die Kanons in Sine nomine über den gesamten Satz verteilt – jede Stimme kann jede andere zum Partner haben. Und wo eine der Stimmen nicht die Hauptmelodie singt, setzt sie mitunter in Imitation ein. Das einleitende Kyrie ist ein gutes Beispiel. Es ist um einen Kanon der beiden Oberstimmen (im Quartabstand und um 14 Takte verschoben) herum komponiert. Bis die zweite Stimme – erst relativ spät – eintritt, begleitet die dritte Stimme die Oberstimme mit Musik, die offensichtlich mit der Kanonmelodie verwandt ist. Wenn schließlich der Bass einsetzt, tut er das Gleiche.

Um dieser subtil-raffinierten Schreibweise, noch dazu über den Verlauf der gesamten Messe hinweg, gerecht zu werden, müsste man ein kleines Buch füllen.

Das Christe und zweite Kyrie folgen mit ihren eigenen kanonischen Strukturen. Das Gloria beginnt mit einer Imitation zwischen Oberstimme und zweiter Stimme – eine „Finte“, denn keine der beiden Stimmen singt die wirkliche Kanonmelodie abgesehen von ihren Anfangsnoten. Und so geht es immer weiter: Um dieser subtil-raffinierten Schreibweise, noch dazu über den Verlauf der gesamten Messe hinweg, gerecht zu werden, müsste man ein kleines Buch füllen.

© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Renate Wendel





Die Messen

Die Messen

Jan van Eyck, Genter Altar (1432, Ausschnitt) © artinflanders.be (Foto: Hugo Maertens, Dominique Provost)

Achtzehn Mal hat Josquin den Text des lateinischen Messordinariums in Musik gesetzt und dabei für jede seiner Vertonungen eine ganz eigene kompositorische Methode und Klangwelt geschaffen. Lernen Sie die musikalische Vielfalt der Messen mit den preisgekrönten Aufnahmen der Tallis Scholars und Essays ihres Gründers und künstlerischen Leiters Peter Phillips kennen.

Missa Une mousse de Biscaye

Die spätmittelalterlichen Wurzeln von Josquins Musiksprache sind in der Missa Une Mousse de Biscaye, einer seiner ersten Messvertonungen überhaupt, vielleicht am deutlichsten zu hören.

Missa L’ami Baudichon

Schon zu Beginn seiner Laufbahn experimentierte Josquin in der frühen Missa L’ami Baudichon mit den Möglichkeiten der Form.

Missa Ad fugam

Komplexe Kanons waren für alle Komponisten des 15. Jahrhunderts eine wichtige Bewährungsprobe. Josquin schrieb zwei Messen, die vollständig auf Kanons basieren – Ad fugam, die frühere der beiden, ist womöglich sein mathematisch strengstes Werk.

Missa Di dadi

Kann man eine Renaissance-Messe durch Auswürfeln komponieren? Die Missa Di dadi zeigt Josquins Leidenschaft für mathematische Spielereien – und für das Glücksspiel.

Missa D’ung aultre amer

Josquins kürzeste Messvertonung basiert auf einer Chanson seines Lehrers Johannes Ockeghem und enthält eine bewegende musikalische Verneigung vor dem älteren Komponisten.

Missa Gaudeamus

Die Missa Gaudeamus verkörpert die Kunstfertigkeit der Renaissance in ihrer intensivsten Form. Ausgehend von einer umfangreichen Choralmelodie kommen hier ausgeklügelte und tatsächlich hörbare mathematische Kompositionsverfahren zum Einsatz.

Missa La sol fa re mi

Der Name ist Programm: Missa La sol fa re mi basiert auf den fünf Noten, die diesen Solmisationssilben im mittelalterlichen Tonsystem entsprechen. Mit einem derart kurzen und vielseitigen Motiv eröffnete sich Josquin ungeahnte Möglichkeiten der musikalischen Bezüge und Verweise.

Missa Hercules Dux Ferrariae

Für seinen damaligen Arbeitgeber Herzog Ercole I. von Ferrara verwandelte Josquin kurzerhand dessen Namen in ein musikalisches Motiv und komponierte auf dieser Grundlage eine ganze Messe.

Missa Faysant regretz

Aus einem einfachen Viertonmotiv konstruiert Josquin in der Missa Faysant regretz seine vielleicht dichteste und mitreißendste Polyphonie, eine Welt von vielgestaltigen, umherwirbelnden Anspielungen und Verweisen.

Missa Ave maris stella

Kompakt, geschmeidig, prägnant – die Missa Ave maris stella ist das Werk eines sehr selbstbewussten Komponisten, der nicht nur sein Handwerkszeug souverän beherrscht, sondern seiner ganzen Zunft den Weg in die Zukunft weist.

Missa Fortuna desperata

Das Rad der Fortuna dreht sich in Josquins Missa Fortuna desperata – einer der ersten Messen überhaupt, die nicht mehr auf einer einfachen Melodie, sondern auf einer mehrstimmigen Vorlage basieren.

Missa L’homme armé super voces musicales

In der Missa L’homme armé super voces musicales finden sich einige von Josquins mathematisch komplexesten Kompositions-Kniffen – eine Demonstration seiner kombinatorischen Fähigkeiten und ein echtes Wunderwerk für seine Zeitgenossen.

Missa L’homme armé sexti toni

Josquins zweite Messvertonung auf Grundlage der populären L’homme-armé-Melodie wirkt wie eine freie Fantasie über das Lied vom „bewaffneten Mann“ – die große Bandbreite an Texturen und scheinbar mühelos gesetzte Kanons erinnern an minimalistische Klangwelten à la Philip Glass.

Missa Malheur me bat

Viele von Josquins Messvertonungen finden ihren Höhepunkt im letzten Satz, nicht unähnlich einer romantischen Symphonie: Das Agnus Dei der Missa Malheur me bat ist ein beeindruckendes Beispiel dafür.

Missa Sine nomine

Die „namenlose“ Missa Sine nomine ist Josquins zweite rein kanonische Messe und zeigt seine ganze Erfahrung mit mathematischen Kompositionstechniken.

Missa De beata virgine

Zu Josquins Lebzeiten wurde diese Messe von allen seinen Werken wahrscheinlich am häufigsten aufgeführt – und sie faszinierte die Musiktheoretiker noch bis ins 18. Jahrhundert.

Missa Mater Patris

Missa Mater Patris steht für die kühne Schlichtheit des späten Josquin: Kein dichtes polyphones Geflecht mehr, sondern lichte, offene Strukturen, viel Witz und Verspieltheit.

Missa Pange lingua

Wahrscheinlich ist sie Josquins letzte Messe – ganz sicher aber eine seiner besten: Die Gleichberechtigung aller vier Stimmen in der Missa Pange lingua hat den weiteren Verlauf der europäischen Musikgeschichte entscheidend geprägt.