Missa Hercules Dux Ferrariae

Eine Messe ganz nach dem Geschmack des Auftraggebers

Die Missa Hercules Dux Ferrariae entstand für Ercole I. d’Este von Ferrara, möglicherweise als Josquin 1503/04 an seinem Hof beschäftigt war. Um die Konstruktion dieser Messe zu verstehen, muss man sich zunächst darüber bewusst sein, dass Herzog Ercole Wert darauf legte, seinen Namen möglichst oft und deutlich gesungen zu hören. Daher verwendete Josquin die Vokale seines Namens und Titels, HErcUlEs DUx FErrArIaE, und transformierte sie mithilfe der Solmisationssilben des Guidonischen Hexachords rE - Ut - rE - Ut - rE - lA - mI - rE in eine nette kleine Melodie:

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Dann lässt er diese Folge von acht Tönen insgesamt 47 Mal singen, und zwar fast ausschließlich im Tenor, der am besten hörbaren Stimme. Diese Melodie wird umso deutlicher, da sie einerseits nicht auf den Messtext, sondern Ercoles Namen gesungen wird und andererseits oft aufeinanderfolgend in drei unterschiedlichen, aufsteigenden Tonlagen erklingt, so dass sich dadurch ein Klangcrescendo ergibt – dieses dreifache Auftreten der Melodie könnte man das vollständige „Thema“ der Messe nennen. Manchmal, etwa im „Hosanna“, werden die Notenwerte auch stufenweise halbiert, während die Tonlage erhöht wird, so dass sich gegen Ende des Satzes ein zusätzliches Spannungscrescendo einstellt.

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Ercole I. von Ferrara (rechts) mit seinem Vorgänger und Halbbruder Borso I. (Druck von 1641, © Rijksmuseum Amsterdam)

Am Ende des „Hosanna“ fasst Josquin alles zusammen, was er in dieser Vertonung erreichen wollte, und man darf annehmen, dass Ercole angesichts des jubilierenden Texts an dieser Stelle mit dem Werk zufrieden war. Es ist auch möglich, dass sich Josquin durch Ercoles Hang zur Selbstverherrlichung dazu ermutigt fühlte, das ,,Ercole-Thema“ im Laufe der fünf Sätze zwölf Mal „vollständig“ erklingen zu lassen – eine Anspielung auf die zwölf Heldentaten des Herkules.

Doch ist diese Messe wohl nicht in erster Linie für das Ercole-Thema berühmt, sondern eher für den Kontrapunkt, den Josquin darum herum konstruierte. Damit tat er effektiv das, was Bach über 200 Jahre später so oft in seinen Choralvorspielen tat – er ließ die umliegenden Stimmen zuerst einsetzen, bevor die Hauptmelodie in schlichter und deutlicher Form inmitten des Geschehens hinzutritt.

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Die Tenorstimme im Gloria der Missa Hercules Dux Ferrariae mit dem „Ercole-Thema“ (© Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. 4809)

Die Kontrapunkte sind im dritten Agnus, wo das Ensemble von vier auf sechs Stimmen aufgestockt wird, am bezauberndsten. Die Soprane (die endlich auch einen Teil des Themas singen dürfen) erklingen in einfachem Kanon mit den Tenören (die es hier zum letzten Mal vollständig singen), doch ist es eigentlich der Satz der anderen Stimmen darum herum, der diese Vertonung zu einem Meisterwerk Josquins macht – auch hier wollte er mit dem Schlusssatz der Messe das Vorangegangene zusammenfassen und krönen.

© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Viola Scheffel





Die Messen

Die Messen

Jan van Eyck, Genter Altar (1432, Ausschnitt) © artinflanders.be (Foto: Hugo Maertens, Dominique Provost)

Achtzehn Mal hat Josquin den Text des lateinischen Messordinariums in Musik gesetzt und dabei für jede seiner Vertonungen eine ganz eigene kompositorische Methode und Klangwelt geschaffen. Lernen Sie die musikalische Vielfalt der Messen mit den preisgekrönten Aufnahmen der Tallis Scholars und Essays ihres Gründers und künstlerischen Leiters Peter Phillips kennen.

Missa Une mousse de Biscaye

Die spätmittelalterlichen Wurzeln von Josquins Musiksprache sind in der Missa Une Mousse de Biscaye, einer seiner ersten Messvertonungen überhaupt, vielleicht am deutlichsten zu hören.

Missa L’ami Baudichon

Schon zu Beginn seiner Laufbahn experimentierte Josquin in der frühen Missa L’ami Baudichon mit den Möglichkeiten der Form.

Missa Ad fugam

Komplexe Kanons waren für alle Komponisten des 15. Jahrhunderts eine wichtige Bewährungsprobe. Josquin schrieb zwei Messen, die vollständig auf Kanons basieren – Ad fugam, die frühere der beiden, ist womöglich sein mathematisch strengstes Werk.

Missa Di dadi

Kann man eine Renaissance-Messe durch Auswürfeln komponieren? Die Missa Di dadi zeigt Josquins Leidenschaft für mathematische Spielereien – und für das Glücksspiel.

Missa D’ung aultre amer

Josquins kürzeste Messvertonung basiert auf einer Chanson seines Lehrers Johannes Ockeghem und enthält eine bewegende musikalische Verneigung vor dem älteren Komponisten.

Missa Gaudeamus

Die Missa Gaudeamus verkörpert die Kunstfertigkeit der Renaissance in ihrer intensivsten Form. Ausgehend von einer umfangreichen Choralmelodie kommen hier ausgeklügelte und tatsächlich hörbare mathematische Kompositionsverfahren zum Einsatz.

Missa La sol fa re mi

Der Name ist Programm: Missa La sol fa re mi basiert auf den fünf Noten, die diesen Solmisationssilben im mittelalterlichen Tonsystem entsprechen. Mit einem derart kurzen und vielseitigen Motiv eröffnete sich Josquin ungeahnte Möglichkeiten der musikalischen Bezüge und Verweise.

Missa Hercules Dux Ferrariae

Für seinen damaligen Arbeitgeber Herzog Ercole I. von Ferrara verwandelte Josquin kurzerhand dessen Namen in ein musikalisches Motiv und komponierte auf dieser Grundlage eine ganze Messe.

Missa Faysant regretz

Aus einem einfachen Viertonmotiv konstruiert Josquin in der Missa Faysant regretz seine vielleicht dichteste und mitreißendste Polyphonie, eine Welt von vielgestaltigen, umherwirbelnden Anspielungen und Verweisen.

Missa Ave maris stella

Kompakt, geschmeidig, prägnant – die Missa Ave maris stella ist das Werk eines sehr selbstbewussten Komponisten, der nicht nur sein Handwerkszeug souverän beherrscht, sondern seiner ganzen Zunft den Weg in die Zukunft weist.

Missa Fortuna desperata

Das Rad der Fortuna dreht sich in Josquins Missa Fortuna desperata – einer der ersten Messen überhaupt, die nicht mehr auf einer einfachen Melodie, sondern auf einer mehrstimmigen Vorlage basieren.

Missa L’homme armé super voces musicales

In der Missa L’homme armé super voces musicales finden sich einige von Josquins mathematisch komplexesten Kompositions-Kniffen – eine Demonstration seiner kombinatorischen Fähigkeiten und ein echtes Wunderwerk für seine Zeitgenossen.

Missa L’homme armé sexti toni

Josquins zweite Messvertonung auf Grundlage der populären L’homme-armé-Melodie wirkt wie eine freie Fantasie über das Lied vom „bewaffneten Mann“ – die große Bandbreite an Texturen und scheinbar mühelos gesetzte Kanons erinnern an minimalistische Klangwelten à la Philip Glass.

Missa Malheur me bat

Viele von Josquins Messvertonungen finden ihren Höhepunkt im letzten Satz, nicht unähnlich einer romantischen Symphonie: Das Agnus Dei der Missa Malheur me bat ist ein beeindruckendes Beispiel dafür.

Missa Sine nomine

Die „namenlose“ Missa Sine nomine ist Josquins zweite rein kanonische Messe und zeigt seine ganze Erfahrung mit mathematischen Kompositionstechniken.

Missa De beata virgine

Zu Josquins Lebzeiten wurde diese Messe von allen seinen Werken wahrscheinlich am häufigsten aufgeführt – und sie faszinierte die Musiktheoretiker noch bis ins 18. Jahrhundert.

Missa Mater Patris

Missa Mater Patris steht für die kühne Schlichtheit des späten Josquin: Kein dichtes polyphones Geflecht mehr, sondern lichte, offene Strukturen, viel Witz und Verspieltheit.

Missa Pange lingua

Wahrscheinlich ist sie Josquins letzte Messe – ganz sicher aber eine seiner besten: Die Gleichberechtigung aller vier Stimmen in der Missa Pange lingua hat den weiteren Verlauf der europäischen Musikgeschichte entscheidend geprägt.