Die Missa Gaudeamus verkörpert die Kunstfertigkeit der Renaissance in ihrer intensivsten Form. Ausgehend von einer umfangreichen Choralmelodie kommen hier ausgeklügelte und dankenswert hörbare mathematische Kompositionsverfahren zum Einsatz. Sie entstand wahrscheinlich genau in der Mitte von Josquins Schaffen als Messkomponist als neunte von 18 Vertonungen, die ihm standardmäßig zugeschrieben werden – zwanzig Jahre nach seinen ersten und zwanzig Jahre vor den letzten Beiträgen zur Gattung.
Die ersten sechs Töne des Chorals erklingen 61 Mal und sind fast jedes Mal hörbar – das hält die Gesamtstruktur überzeugend zusammen.
Josquin zitiert die vollständige Choralmelodie nur zweimal, einmal im Gloria und einmal im Credo, und zwar jeweils im Tenor in zumeist langen Noten, deren Konturen erheblich verziert sind. Nur sehr erfahrene Hörerinnen und Hörer werden sie als zusammenhängende Melodie wahrnehmen. In den übrigen Sätzen dagegen konzentrierte sich Josquin nur auf die ersten sechs Töne des Chorals, die er insgesamt 61 Mal erklingen lässt. Dieser Ausschnitt ist fast jedes Mal hörbar und hält die Gesamtstruktur in überzeugender Weise zusammen.
Markante Beispiele dieses Ausschnitts sind zu Beginn des Kyrie, Gloria und Hosanna zu hören, wo alle vier Stimmen damit einsetzen. Jedoch hat Josquin jeweils den Quintsprung vom dritten zum vierten Ton des Chorals mit Sekundschritten ausgefüllt. Zu Beginn des Gloria singt der Tenor, der als letzte Stimme in das imitative Geschehen eintritt, nichts anderes als diese Phrase: sie erklingt 45 Takte lang als Ostinato bis zur ersten Vollkadenz. Im Sanctus wird der Schnipsel nur von den Sopranstimmen gesungen, und zwar in dramatisch hoher Tonlage und ausgehalten, womit eine neue, trompetenartige Klangfarbe entsteht.
Das große mathematische Feuerwerk dieser Vertonung findet sich, wie so oft in Josquins Messen, im letzten Agnus Dei.
Das große mathematische Feuerwerk dieser Vertonung findet sich jedoch, wie so oft in Josquins Messen, im letzten Agnus Dei. Hier wird der Choralausschnitt in „einer schwindelerregenden Reihe von Transpositionen“ (Willem Elders) in allen Stimmen zitiert. Der Tenor führt das Ganze an, indem er die Passage zunächst (auf G beginnend) zweimal in ursprünglicher Form vorträgt, worauf der Bass (auf D beginnend), der Sopran (auf G) und der Alt (auf C) antworten. So weit, so gut (und normal); dann jedoch übernehmen Bass und Tenor die Führung mit einer rasanten Reihe von Zitaten und Kanons, die in der Tat schwindelerregend wirken. Josquin hatte entdeckt, dass die sechs Töne des Fragments in bestimmten, miteinander verbundenen Tonlagen überlappt werden können, was dazu führt, dass die Passage bei jeder Wiederholung um eine Terz abfällt (der Bass beginnt seine erste Version auf C, die nächste auf A und die nächste auf dem tiefen F, während der ihn überlappende Tenor auf G beginnt, dann auf E und schließlich auf dem tiefen C). Das tiefe F der Bassstimme ist das einzige Mal im gesamten Werk, dass dieser Ton erklingt, womit in wirkungsvoller Weise die Coda und der Abschluss der Vertonung angekündigt werden.
© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Viola Scheffel