Missa Gaudeamus

Die Kunstfertigkeit der Renaissance in ihrer intensivsten Form.

Die Missa Gaudeamus verkörpert die Kunstfertigkeit der Renaissance in ihrer intensivsten Form. Ausgehend von einer umfangreichen Choralmelodie kommen hier ausgeklügelte und dankenswert hörbare mathematische Kompositionsverfahren zum Einsatz. Sie entstand wahrscheinlich genau in der Mitte von Josquins Schaffen als Messkomponist als neunte von 18 Vertonungen, die ihm standardmäßig zugeschrieben werden – zwanzig Jahre nach seinen ersten und zwanzig Jahre vor den letzten Beiträgen zur Gattung.

Die ersten sechs Töne des Chorals erklingen 61 Mal und sind fast jedes Mal hörbar – das hält die Gesamtstruktur überzeugend zusammen.

Josquin zitiert die vollständige Choralmelodie nur zweimal, einmal im Gloria und einmal im Credo, und zwar jeweils im Tenor in zumeist langen Noten, deren Konturen erheblich verziert sind. Nur sehr erfahrene Hörerinnen und Hörer werden sie als zusammenhängende Melodie wahrnehmen. In den übrigen Sätzen dagegen konzentrierte sich Josquin nur auf die ersten sechs Töne des Chorals, die er insgesamt 61 Mal erklingen lässt. Dieser Ausschnitt ist fast jedes Mal hörbar und hält die Gesamtstruktur in überzeugender Weise zusammen.

Gaudeamus_Image_attr Ockeghem_Alamire_1520_A-Wn Cod 11778_CLEAR.jpg

Die Missa Gaudeamus in einer Abschrift aus den 1520er Jahren, hier irrtümlich Josquins Vorbild und Lehrer Johannes Ockeghem zugeschrieben (© Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. 11778)

Markante Beispiele dieses Ausschnitts sind zu Beginn des Kyrie, Gloria und Hosanna zu hören, wo alle vier Stimmen damit einsetzen. Jedoch hat Josquin jeweils den Quintsprung vom dritten zum vierten Ton des Chorals mit Sekundschritten ausgefüllt. Zu Beginn des Gloria singt der Tenor, der als letzte Stimme in das imitative Geschehen eintritt, nichts anderes als diese Phrase: sie erklingt 45 Takte lang als Ostinato bis zur ersten Vollkadenz. Im Sanctus wird der Schnipsel nur von den Sopranstimmen gesungen, und zwar in dramatisch hoher Tonlage und ausgehalten, womit eine neue, trompetenartige Klangfarbe entsteht.

Das große mathematische Feuerwerk dieser Vertonung findet sich, wie so oft in Josquins Messen, im letzten Agnus Dei.

Das große mathematische Feuerwerk dieser Vertonung findet sich jedoch, wie so oft in Josquins Messen, im letzten Agnus Dei. Hier wird der Choralausschnitt in „einer schwindelerregenden Reihe von Transpositionen“ (Willem Elders) in allen Stimmen zitiert. Der Tenor führt das Ganze an, indem er die Passage zunächst (auf G beginnend) zweimal in ursprünglicher Form vorträgt, worauf der Bass (auf D beginnend), der Sopran (auf G) und der Alt (auf C) antworten. So weit, so gut (und normal); dann jedoch übernehmen Bass und Tenor die Führung mit einer rasanten Reihe von Zitaten und Kanons, die in der Tat schwindelerregend wirken. Josquin hatte entdeckt, dass die sechs Töne des Fragments in bestimmten, miteinander verbundenen Tonlagen überlappt werden können, was dazu führt, dass die Passage bei jeder Wiederholung um eine Terz abfällt (der Bass beginnt seine erste Version auf C, die nächste auf A und die nächste auf dem tiefen F, während der ihn überlappende Tenor auf G beginnt, dann auf E und schließlich auf dem tiefen C). Das tiefe F der Bassstimme ist das einzige Mal im gesamten Werk, dass dieser Ton erklingt, womit in wirkungsvoller Weise die Coda und der Abschluss der Vertonung angekündigt werden.

© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Viola Scheffel





Die Messen

Die Messen

Jan van Eyck, Genter Altar (1432, Ausschnitt) © artinflanders.be (Foto: Hugo Maertens, Dominique Provost)

Achtzehn Mal hat Josquin den Text des lateinischen Messordinariums in Musik gesetzt und dabei für jede seiner Vertonungen eine ganz eigene kompositorische Methode und Klangwelt geschaffen. Lernen Sie die musikalische Vielfalt der Messen mit den preisgekrönten Aufnahmen der Tallis Scholars und Essays ihres Gründers und künstlerischen Leiters Peter Phillips kennen.

Missa Une mousse de Biscaye

Die spätmittelalterlichen Wurzeln von Josquins Musiksprache sind in der Missa Une Mousse de Biscaye, einer seiner ersten Messvertonungen überhaupt, vielleicht am deutlichsten zu hören.

Missa L’ami Baudichon

Schon zu Beginn seiner Laufbahn experimentierte Josquin in der frühen Missa L’ami Baudichon mit den Möglichkeiten der Form.

Missa Ad fugam

Komplexe Kanons waren für alle Komponisten des 15. Jahrhunderts eine wichtige Bewährungsprobe. Josquin schrieb zwei Messen, die vollständig auf Kanons basieren – Ad fugam, die frühere der beiden, ist womöglich sein mathematisch strengstes Werk.

Missa Di dadi

Kann man eine Renaissance-Messe durch Auswürfeln komponieren? Die Missa Di dadi zeigt Josquins Leidenschaft für mathematische Spielereien – und für das Glücksspiel.

Missa D’ung aultre amer

Josquins kürzeste Messvertonung basiert auf einer Chanson seines Lehrers Johannes Ockeghem und enthält eine bewegende musikalische Verneigung vor dem älteren Komponisten.

Missa Gaudeamus

Die Missa Gaudeamus verkörpert die Kunstfertigkeit der Renaissance in ihrer intensivsten Form. Ausgehend von einer umfangreichen Choralmelodie kommen hier ausgeklügelte und tatsächlich hörbare mathematische Kompositionsverfahren zum Einsatz.

Missa La sol fa re mi

Der Name ist Programm: Missa La sol fa re mi basiert auf den fünf Noten, die diesen Solmisationssilben im mittelalterlichen Tonsystem entsprechen. Mit einem derart kurzen und vielseitigen Motiv eröffnete sich Josquin ungeahnte Möglichkeiten der musikalischen Bezüge und Verweise.

Missa Hercules Dux Ferrariae

Für seinen damaligen Arbeitgeber Herzog Ercole I. von Ferrara verwandelte Josquin kurzerhand dessen Namen in ein musikalisches Motiv und komponierte auf dieser Grundlage eine ganze Messe.

Missa Faysant regretz

Aus einem einfachen Viertonmotiv konstruiert Josquin in der Missa Faysant regretz seine vielleicht dichteste und mitreißendste Polyphonie, eine Welt von vielgestaltigen, umherwirbelnden Anspielungen und Verweisen.

Missa Ave maris stella

Kompakt, geschmeidig, prägnant – die Missa Ave maris stella ist das Werk eines sehr selbstbewussten Komponisten, der nicht nur sein Handwerkszeug souverän beherrscht, sondern seiner ganzen Zunft den Weg in die Zukunft weist.

Missa Fortuna desperata

Das Rad der Fortuna dreht sich in Josquins Missa Fortuna desperata – einer der ersten Messen überhaupt, die nicht mehr auf einer einfachen Melodie, sondern auf einer mehrstimmigen Vorlage basieren.

Missa L’homme armé super voces musicales

In der Missa L’homme armé super voces musicales finden sich einige von Josquins mathematisch komplexesten Kompositions-Kniffen – eine Demonstration seiner kombinatorischen Fähigkeiten und ein echtes Wunderwerk für seine Zeitgenossen.

Missa L’homme armé sexti toni

Josquins zweite Messvertonung auf Grundlage der populären L’homme-armé-Melodie wirkt wie eine freie Fantasie über das Lied vom „bewaffneten Mann“ – die große Bandbreite an Texturen und scheinbar mühelos gesetzte Kanons erinnern an minimalistische Klangwelten à la Philip Glass.

Missa Malheur me bat

Viele von Josquins Messvertonungen finden ihren Höhepunkt im letzten Satz, nicht unähnlich einer romantischen Symphonie: Das Agnus Dei der Missa Malheur me bat ist ein beeindruckendes Beispiel dafür.

Missa Sine nomine

Die „namenlose“ Missa Sine nomine ist Josquins zweite rein kanonische Messe und zeigt seine ganze Erfahrung mit mathematischen Kompositionstechniken.

Missa De beata virgine

Zu Josquins Lebzeiten wurde diese Messe von allen seinen Werken wahrscheinlich am häufigsten aufgeführt – und sie faszinierte die Musiktheoretiker noch bis ins 18. Jahrhundert.

Missa Mater Patris

Missa Mater Patris steht für die kühne Schlichtheit des späten Josquin: Kein dichtes polyphones Geflecht mehr, sondern lichte, offene Strukturen, viel Witz und Verspieltheit.

Missa Pange lingua

Wahrscheinlich ist sie Josquins letzte Messe – ganz sicher aber eine seiner besten: Die Gleichberechtigung aller vier Stimmen in der Missa Pange lingua hat den weiteren Verlauf der europäischen Musikgeschichte entscheidend geprägt.