Missa Malheur me bat

Tour de force mit beeindruckendem Finale

Der Missa Malheur me bat liegt eine dreistimmige, weltliche Chanson zugrunde, deren Urheber nicht mit Sicherheit bestimmt werden kann. Wahrscheinlich stammt sie aus der Feder eines relativ unbekannten flämischen Komponisten namens Malcort, dessen Obskurität der Schönheit dieses Liedes natürlich keinen Abbruch tut, das um 1500 als Grundlage für Messevertonungen besonders beliebt war und u.a. von Agricola und Obrecht genutzt wurde. Umso merkwürdiger, dass keine der neun Quellen abgesehen vom Titel den Text des Liedes überliefert. Eine Aufführung durch die Tallis Scholars bei den BBC Proms 2008 war nur möglich, nachdem ein zeitgenössischer Dichter – Jacques Darras – den Text vervollständigt hatte.

Vor Josquin nutzten Komponisten üblicherweise nur eine Stimme des Originals, meistens den Tenor, als Vorlage für ihre Messen und leiteten alle Motive aus dieser Stimme ab – eine sogenannte Paraphrase. Hier ging Josquin jedoch einen Schritt weiter und bediente sich nicht nur aus einer, sondern aus allen drei Stimmen und verdreifachte so also auf einen Schlag das musikalische Material, das er verwenden konnte. Eines der ersten Beispiele für dieses polyphone Parodieverfahren ist Josquins Missa Fortuna desperata. In Malheur me bat, die später entstanden ist, entwickelte Josquin diese Technik weiter.

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Die Missa Malheur me bat in einer Abschrift aus den 1520er Jahren (© Österreichische Nationalbibliothek)

Diese Kompositionstechniken sind erstaunlich kompliziert. Praktisch jedem Takt dieser Messen liegt ein Zitat aus der jeweiligen Vorlage zugrunde, wobei Josquin offenbar willkürlich entschieden hat aus welcher der drei Stimmen er sein Material generierte, ob eine oder mehrere gleichzeitig genutzt werden (an den Satzanfängen sind meist alle drei zu finden) und in welcher Geschwindigkeit das Original zitiert wird. Im Allgemeinen konstruiert er seine polyphonen Sätze aus relativ kurzen Motiven, die oft in Sequenzen wiederholt und damit zu wiedererkennbaren Bausteinen werden.

Oft ist sein Einfallsreichtum jedoch nicht so deutlich hörbar. Sowohl im Gloria als auch im Credo von Malheur me bat zitiert Josquin eine Melodie der Vorlage bis zu einem bestimmten Punkt, lässt das Zitat dann erneut von vorne beginnen und zitiert nun ein paar Noten mehr. Dann stoppt er erneut, beginnt wieder von vorne zitiert wiederum ein paar Noten mehr in einem immer weiter wachsenden „Loop“. Neben diesem thematischen „Gerüst“ aus längeren Zitate baut Josquin unzählige kleine, „geliehene“ und auch neu erfundene Motive ein, die das streng mathematische Element dieser Musik überdecken und gleichzeitig die Hauptaussage des Textes wiedergeben und die Musik vorantreiben.

Das zweite Agnus Dei ist als freier Kanon im Sekundabstand angelegt. Diese Art von Kanon ist am schwierigsten zu komponieren und sorgt für einen hypnotisierenden, überirdischen Effekt.

Nicht unähnlich einer romantischen Symphonie findet auch diese kunstvolle Art der Messvertonung ihren Höhepunkt im letzten Satz. Mit wachsender kompositorischer Erfahrung, die dem Agnus Dei zugrundeliegt, und ebenso gesteigertem Symbolismus, der den geliehenen Themen inhärent ist, verleiht Josquin seinem musikalischen Ausdruck „symphonische“ Breite. Das Agnus Dei der Missa Malheur me bat besteht aus den zu Josquins Zeit üblichen drei Anrufungen. Im ersten Agnus singt der Tenor eine vereinfachte Version der Chanson-Tenorstimme in langen Notenwerten, während die übrigen Stimmen typisch Josquinschen „Bausteinen“ aus wiederholten Motiven beisteuern. Das zweite Agnus Dei ist zweistimmig und als freier Kanon im Sekundabstand angelegt. Diese Art von Kanon ist am schwierigsten zu komponieren und sorgt für einen hypnotisierenden, überirdischen Effekt.

Das dritte und letzte Agnus Dei gehört zu den Glanzstücken des gesamten Repertoires und ist in ähnlicher Weise konstruiert wie das letzte Agnus Dei in Josquins Missa L’homme armé sexti toni.

Das dritte und letzte Agnus Dei gehört zu den Glanzstücken des gesamten Repertoires und ist in ähnlicher Weise konstruiert wie das letzte Agnus Dei in Josquins Missa L’homme armé sexti toni. Der bislang vierstimmige Satz ist hier um zwei zusätzliche Stimmen erweitert. Die Außenstimmen der Chanson-Vorlage werden ohne Veränderungen übernommen, während die Mittelstimme des Originals komplett fehlt und durch einen Doppelkanon ersetzt ist – d.h. zwei Stimmpaare, die jeweils im Kanon miteinander singen. Auf diese Weise fungiert die Musik aus der Chanson als Gerüst für die filigranen Details der Kanonstimmen, die scheinbar willkürlich hinzutreten und wieder aussetzen.

© Peter Phillips / Gimell Records, Viola Scheffel





Die Messen

Die Messen

Jan van Eyck, Genter Altar (1432, Ausschnitt) © artinflanders.be (Foto: Hugo Maertens, Dominique Provost)

Achtzehn Mal hat Josquin den Text des lateinischen Messordinariums in Musik gesetzt und dabei für jede seiner Vertonungen eine ganz eigene kompositorische Methode und Klangwelt geschaffen. Lernen Sie die musikalische Vielfalt der Messen mit den preisgekrönten Aufnahmen der Tallis Scholars und Essays ihres Gründers und künstlerischen Leiters Peter Phillips kennen.

Missa Une mousse de Biscaye

Die spätmittelalterlichen Wurzeln von Josquins Musiksprache sind in der Missa Une Mousse de Biscaye, einer seiner ersten Messvertonungen überhaupt, vielleicht am deutlichsten zu hören.

Missa L’ami Baudichon

Schon zu Beginn seiner Laufbahn experimentierte Josquin in der frühen Missa L’ami Baudichon mit den Möglichkeiten der Form.

Missa Ad fugam

Komplexe Kanons waren für alle Komponisten des 15. Jahrhunderts eine wichtige Bewährungsprobe. Josquin schrieb zwei Messen, die vollständig auf Kanons basieren – Ad fugam, die frühere der beiden, ist womöglich sein mathematisch strengstes Werk.

Missa Di dadi

Kann man eine Renaissance-Messe durch Auswürfeln komponieren? Die Missa Di dadi zeigt Josquins Leidenschaft für mathematische Spielereien – und für das Glücksspiel.

Missa D’ung aultre amer

Josquins kürzeste Messvertonung basiert auf einer Chanson seines Lehrers Johannes Ockeghem und enthält eine bewegende musikalische Verneigung vor dem älteren Komponisten.

Missa Gaudeamus

Die Missa Gaudeamus verkörpert die Kunstfertigkeit der Renaissance in ihrer intensivsten Form. Ausgehend von einer umfangreichen Choralmelodie kommen hier ausgeklügelte und tatsächlich hörbare mathematische Kompositionsverfahren zum Einsatz.

Missa La sol fa re mi

Der Name ist Programm: Missa La sol fa re mi basiert auf den fünf Noten, die diesen Solmisationssilben im mittelalterlichen Tonsystem entsprechen. Mit einem derart kurzen und vielseitigen Motiv eröffnete sich Josquin ungeahnte Möglichkeiten der musikalischen Bezüge und Verweise.

Missa Hercules Dux Ferrariae

Für seinen damaligen Arbeitgeber Herzog Ercole I. von Ferrara verwandelte Josquin kurzerhand dessen Namen in ein musikalisches Motiv und komponierte auf dieser Grundlage eine ganze Messe.

Missa Faysant regretz

Aus einem einfachen Viertonmotiv konstruiert Josquin in der Missa Faysant regretz seine vielleicht dichteste und mitreißendste Polyphonie, eine Welt von vielgestaltigen, umherwirbelnden Anspielungen und Verweisen.

Missa Ave maris stella

Kompakt, geschmeidig, prägnant – die Missa Ave maris stella ist das Werk eines sehr selbstbewussten Komponisten, der nicht nur sein Handwerkszeug souverän beherrscht, sondern seiner ganzen Zunft den Weg in die Zukunft weist.

Missa Fortuna desperata

Das Rad der Fortuna dreht sich in Josquins Missa Fortuna desperata – einer der ersten Messen überhaupt, die nicht mehr auf einer einfachen Melodie, sondern auf einer mehrstimmigen Vorlage basieren.

Missa L’homme armé super voces musicales

In der Missa L’homme armé super voces musicales finden sich einige von Josquins mathematisch komplexesten Kompositions-Kniffen – eine Demonstration seiner kombinatorischen Fähigkeiten und ein echtes Wunderwerk für seine Zeitgenossen.

Missa L’homme armé sexti toni

Josquins zweite Messvertonung auf Grundlage der populären L’homme-armé-Melodie wirkt wie eine freie Fantasie über das Lied vom „bewaffneten Mann“ – die große Bandbreite an Texturen und scheinbar mühelos gesetzte Kanons erinnern an minimalistische Klangwelten à la Philip Glass.

Missa Malheur me bat

Viele von Josquins Messvertonungen finden ihren Höhepunkt im letzten Satz, nicht unähnlich einer romantischen Symphonie: Das Agnus Dei der Missa Malheur me bat ist ein beeindruckendes Beispiel dafür.

Missa Sine nomine

Die „namenlose“ Missa Sine nomine ist Josquins zweite rein kanonische Messe und zeigt seine ganze Erfahrung mit mathematischen Kompositionstechniken.

Missa De beata virgine

Zu Josquins Lebzeiten wurde diese Messe von allen seinen Werken wahrscheinlich am häufigsten aufgeführt – und sie faszinierte die Musiktheoretiker noch bis ins 18. Jahrhundert.

Missa Mater Patris

Missa Mater Patris steht für die kühne Schlichtheit des späten Josquin: Kein dichtes polyphones Geflecht mehr, sondern lichte, offene Strukturen, viel Witz und Verspieltheit.

Missa Pange lingua

Wahrscheinlich ist sie Josquins letzte Messe – ganz sicher aber eine seiner besten: Die Gleichberechtigung aller vier Stimmen in der Missa Pange lingua hat den weiteren Verlauf der europäischen Musikgeschichte entscheidend geprägt.