Mindestens 31 Mal diente die Chanson „L’homme armé“ während der Renaissance als Grundlage einer Messvertonung, u.a. für prominente Komponisten wie Dufay, Ockeghem, Busnoys (der, wie Pietro Aaron 1523 erwähnt, der Originalkomponist des Gesangsstücks gewesen sein soll), Regis, Tinctoris, Obrecht, Brumel, Mouton, Palestrina, Morales und viele weitere. Diese Tradition endete erst im 17 Jahrhundert mit Giacomo Carissimi, der sie mit einem zwölfstimmigen Werk krönte.
Die älteste verlässliche Quelle der Melodie „L’homme armé“ ist ein Manuskript aus dem späten fünfzehnten Jahrhundert, das sich heute in Neapel befindet und sechs Messen unbekannter Verfasser nach dieser Melodie enthält. Das Lied selbst, das im Zusammenhang mit einem Kreuzzug gegen das Osmanische Reich entstanden sein könnte, ist auf Seite 5 zu finden. Der Text lässt sich in etwa so übersetzen:
„Fürchte den bewaffneten Mann. Man hört, dass jeder einen Haubregon [einen ärmellosen Brustharnisch] aus Eisen anlegen soll.“
Josquin nutzte die Melodie zweimal als Grundlage für eine Messe. Beim ersten Hören könnte man meinen, Sexti toni, die wie ein ausgereiftes Renaissancewerk wirkt, sei Welten entfernt von Josquins zweiter Vertonung, Super voces musicales, die man auch für eine mittelalterliche Komposition halten könnte. Doch das Manuskript lässt darauf schließen, dass beide wahrscheinlich der sogenannten „mittleren“ Schaffensperiode Josquins entstammen, die um 1500 endete, Sexti toni wohl aber etwas später entstanden ist.
Durchkomponierte Imitationstechnik, abwechslungsreiche Texturen, mühelose Kanons – Missa L’homme armé sexti toni wirkt wie eine freie Fantasie über die L’homme-armé-Melodie
Der Titel Sexti toni zeigt an, dass die Ausgangsmelodie hier in den „sechsten Modus“ transponiert ist, sodass F (statt dem üblicheren G) zum Schlusston wird und das Werk eine Durtonalität erhält. Sie gilt nicht zu Unrecht als die „modernere“ der beiden L’homme-armé-Messen. Während Josquin die berühmte Melodie in Super voces musicales unverändert und meist in derselben Stimme zitiert, finden wir sie in Sexti toni oft in nicht wiedererkennbare Fragmente zerlegt und auf alle vier Stimmen verteilt. Während in Super voces musicales die meiste Zeit ein dichter, vierstimmiger Satz dominiert, ist Sexti toni durchsetzt mit Duetten; Imitation und Sequenzen lassen die Textur leicht und zwanglos erscheinen. Während die Kanons in Super voces musicales mit ihrer Gelehrtheit und Raffinesse beeindrucken, wirken sie in Sexti toni locker und mühelos, besonders im großartigen Agnus Dei III. Überspitzt gesagt, wirkt Sexti toni wie eine Fantasie über das L’homme-armé-Thema, Super voces musicales wie eine durchexerzierte Kompositionsübung.
Schon einige von Josquins Vorgängern hatten versucht, die L’homme-armé-Melodie in ihren Messen etwas „versteckt“ einzuarbeiten: Dufay hatte sie im Krebs, d.h. rückwärts zitiert, Busnoys in Umkehrung (d.h. alle Intervallschritte an einer horizontalen Achse gespiegelt), Ockeghem und die anonymen Messen des Manuskripts in Neapel schließlich in Krebsumkehrung. Doch offenbar hat Josquin als erster bemerkt, dass sich die Melodie gleichzeitig in ihrer Originalgestalt und im Krebs zitieren lässt – wenn man mit den Notenwerten, Pausen und hinzugefügten Vorzeichen etwas flexibel umgeht. Genau das tun die beiden tiefsten Stimmen im dritten Agnus Dei: In der ersten Hälfte des Stücks singt der Tenor die gesamte Strophe in langen Notenwerten, während der Bass mehr oder weniger gleichzeitig den gesamten Refrain in langen Noten rückwärts singt. Genau in der Mitte des Satzes tauschen die beiden Stimmen: Jetzt hat der Tenor die Strophe im Krebs, der Bass den Refrain im Original. Das musikalische Material der ersten Hälfte wird so in der zweiten Hälfte exakt wiederholt, nur eben anders herum – d.h. der erste Takt gleicht dem letzten, der zweite dem vorletzten und so weiter. Hier zeigt sich Josquins außergewöhnliche kompositorische Virtuosität, doch die Klangwelt dieses letzten Agnus Dei wirkt absolut neuartig und erinnert, wenn überhaupt, an moderne Minimalisten wie Philip Glass.
© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Anne Steeb und Bernd Müller