Missa Mater Patris

Die kühne Schlichtheit des späten Josquin

Josquins Missa Mater Patris gehört zu seinen geradlinigsten Kompositionen – sie ist kühn und gleichzeitig erfrischend schlicht im Stil. „Schlicht“ wird beim Kategorisieren von Kunstwerken oft mit „früh“ gleichgesetzt. Wo Schlichtheit jedoch das Resultat einer künstlerischen Entwicklung über ein ganzes Leben hinweg ist, kann sie auch „spät“ bedeuten, wie man an vielen Künstlerinnen und Künstlern fortgeschrittenen Alters aus unterschiedlichen Genres erkennen kann – Arvo Pärt ist dafür ein aktuelles Beispiel. Genau diese Reduktion einer hochentwickelten Methode ist es, was Josquin in seiner Missa Mater Patris demonstriert. Kein dichtes polyphones Geflecht mehr wie in vielen seiner früheren Werke, sondern lichte, offene Strukturen, die mit Witz und sogar einer gewissen Verspieltheit realisiert werden.

In Mater patris zitiert Josquin zum ersten und einigen Mal die Musik eines Zeitgenossen – Antoine Brumel.

Neben diesem ungewöhnlichen Stil finden sich in Mater Patris detailgenaue Referenzen an die Musik von Antoine Brumel. Auch sie sind ungewöhnlich, da Josquin hier zum ersten und einzigen Mal in seinen Messvertonungen die Musik eines Zeitgenossen zitiert – und das zudem in beispiellosem Umfang, was im dritten Agnus Dei besonders auffällt. Auch im Rest der Messe entwickelte Josquin alle Hauptthemen seiner Komposition aus Brumels Werk. Daraus lässt sich wohl schließen, dass er Brumel zu dessen Lebzeiten nahegestanden hatte und ihm nun eine Huldigung schrieb – möglicherweise kurz nach Brumels Tod im Jahre 1512 oder 1513. Ob Mater Patris Josquins letzte Messvertonung ist oder nicht, hängt davon ab, wie man seine Missa Pange lingua datiert, die schon lange als sein letztes Wort zur Vertonung des Messordinariums gilt. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass Josquin als alter Mann, nach all seiner ernsten Arbeit, sich nun an einem Musikstil versuchte, bei dem das Gelehrsame nicht im Vordergrund steht.

Mater Patris besteht im Wesentlichen nur aus zwei Schreibstilen: äußerst imitative Duette und feierliche Akkordblöcke, die sie oft abrunden.

Im Unterschied zu dicht gearbeiteten Messvertonungen wie etwa Gaudeamus oder Sine nomine weist Mater Patris im Wesentlichen nur zwei Schreibstile auf, die einander perfekt ergänzen: äußerst imitative Duette, hauptsächlich gesungen von den beiden Mittelstimmen, und feierliche Akkordblöcke, die sie oft abrunden. Zudem gibt es drei längere Duette, die allesamt als strenge Kanons gesetzt sind: ,,Pleni sunt caeli“ (ein Obersekundkanon), das Benedictus (ein Untersekundkanon) und das zweite Agnus Dei (ein Kanon im unisono). Ihre Länge wird durch die Wiederholungen in der Musik bestimmt – dieses zeichnet die Messe als Ganzes aus und entstammt der Vorlage Brumels (im „Hosanna“ wird Brumels „exaudi“-Motiv 34 Mal wiederholt und erklingt in allen modalen Tonlagen).

Und dann haben wir das dritte Agnus Dei, ein erstaunliches Glanzstück, in dem Josquin Brumels Mater Patris fast ganz in sich aufnimmt und in drei Mittelstimmen einer fünfstimmigen Struktur umformt, wobei die Außenstimmen neu komponiert sind. Meine Lieblingsstelle kommt kurz bevor die Worte ,,Agnus Dei“ ein letztes Mal in Akkordblöcken erklingen: hier fügt Josquin seine beiden eigenen Stimmen dem Duett aus der Vorlage hinzu. Er hat die Möglichkeiten bei Brumel so deutlich gehört, dass seine eigenen Einfälle ebenso interessant sind, insbesondere die Art und Weise, mit der die Bassstimme dieselben beiden Töne unterhalb der Musik Brumels stetig wiederholt.

© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Viola Scheffel





Die Messen

Die Messen

Jan van Eyck, Genter Altar (1432, Ausschnitt) © artinflanders.be (Foto: Hugo Maertens, Dominique Provost)

Achtzehn Mal hat Josquin den Text des lateinischen Messordinariums in Musik gesetzt und dabei für jede seiner Vertonungen eine ganz eigene kompositorische Methode und Klangwelt geschaffen. Lernen Sie die musikalische Vielfalt der Messen mit den preisgekrönten Aufnahmen der Tallis Scholars und Essays ihres Gründers und künstlerischen Leiters Peter Phillips kennen.

Missa Une mousse de Biscaye

Die spätmittelalterlichen Wurzeln von Josquins Musiksprache sind in der Missa Une Mousse de Biscaye, einer seiner ersten Messvertonungen überhaupt, vielleicht am deutlichsten zu hören.

Missa L’ami Baudichon

Schon zu Beginn seiner Laufbahn experimentierte Josquin in der frühen Missa L’ami Baudichon mit den Möglichkeiten der Form.

Missa Ad fugam

Komplexe Kanons waren für alle Komponisten des 15. Jahrhunderts eine wichtige Bewährungsprobe. Josquin schrieb zwei Messen, die vollständig auf Kanons basieren – Ad fugam, die frühere der beiden, ist womöglich sein mathematisch strengstes Werk.

Missa Di dadi

Kann man eine Renaissance-Messe durch Auswürfeln komponieren? Die Missa Di dadi zeigt Josquins Leidenschaft für mathematische Spielereien – und für das Glücksspiel.

Missa D’ung aultre amer

Josquins kürzeste Messvertonung basiert auf einer Chanson seines Lehrers Johannes Ockeghem und enthält eine bewegende musikalische Verneigung vor dem älteren Komponisten.

Missa Gaudeamus

Die Missa Gaudeamus verkörpert die Kunstfertigkeit der Renaissance in ihrer intensivsten Form. Ausgehend von einer umfangreichen Choralmelodie kommen hier ausgeklügelte und tatsächlich hörbare mathematische Kompositionsverfahren zum Einsatz.

Missa La sol fa re mi

Der Name ist Programm: Missa La sol fa re mi basiert auf den fünf Noten, die diesen Solmisationssilben im mittelalterlichen Tonsystem entsprechen. Mit einem derart kurzen und vielseitigen Motiv eröffnete sich Josquin ungeahnte Möglichkeiten der musikalischen Bezüge und Verweise.

Missa Hercules Dux Ferrariae

Für seinen damaligen Arbeitgeber Herzog Ercole I. von Ferrara verwandelte Josquin kurzerhand dessen Namen in ein musikalisches Motiv und komponierte auf dieser Grundlage eine ganze Messe.

Missa Faysant regretz

Aus einem einfachen Viertonmotiv konstruiert Josquin in der Missa Faysant regretz seine vielleicht dichteste und mitreißendste Polyphonie, eine Welt von vielgestaltigen, umherwirbelnden Anspielungen und Verweisen.

Missa Ave maris stella

Kompakt, geschmeidig, prägnant – die Missa Ave maris stella ist das Werk eines sehr selbstbewussten Komponisten, der nicht nur sein Handwerkszeug souverän beherrscht, sondern seiner ganzen Zunft den Weg in die Zukunft weist.

Missa Fortuna desperata

Das Rad der Fortuna dreht sich in Josquins Missa Fortuna desperata – einer der ersten Messen überhaupt, die nicht mehr auf einer einfachen Melodie, sondern auf einer mehrstimmigen Vorlage basieren.

Missa L’homme armé super voces musicales

In der Missa L’homme armé super voces musicales finden sich einige von Josquins mathematisch komplexesten Kompositions-Kniffen – eine Demonstration seiner kombinatorischen Fähigkeiten und ein echtes Wunderwerk für seine Zeitgenossen.

Missa L’homme armé sexti toni

Josquins zweite Messvertonung auf Grundlage der populären L’homme-armé-Melodie wirkt wie eine freie Fantasie über das Lied vom „bewaffneten Mann“ – die große Bandbreite an Texturen und scheinbar mühelos gesetzte Kanons erinnern an minimalistische Klangwelten à la Philip Glass.

Missa Malheur me bat

Viele von Josquins Messvertonungen finden ihren Höhepunkt im letzten Satz, nicht unähnlich einer romantischen Symphonie: Das Agnus Dei der Missa Malheur me bat ist ein beeindruckendes Beispiel dafür.

Missa Sine nomine

Die „namenlose“ Missa Sine nomine ist Josquins zweite rein kanonische Messe und zeigt seine ganze Erfahrung mit mathematischen Kompositionstechniken.

Missa De beata virgine

Zu Josquins Lebzeiten wurde diese Messe von allen seinen Werken wahrscheinlich am häufigsten aufgeführt – und sie faszinierte die Musiktheoretiker noch bis ins 18. Jahrhundert.

Missa Mater Patris

Missa Mater Patris steht für die kühne Schlichtheit des späten Josquin: Kein dichtes polyphones Geflecht mehr, sondern lichte, offene Strukturen, viel Witz und Verspieltheit.

Missa Pange lingua

Wahrscheinlich ist sie Josquins letzte Messe – ganz sicher aber eine seiner besten: Die Gleichberechtigung aller vier Stimmen in der Missa Pange lingua hat den weiteren Verlauf der europäischen Musikgeschichte entscheidend geprägt.