Missa Pange lingua

Wahrscheinlich ist sie Josquins letzte Messe – ganz sicher aber eine seiner besten.

Die Missa Pange lingua gilt allgemein als späte Messe – wahrscheinlich ist sie Josquins letzte – und als eine seiner besten: Hier kommt vieles zusammen, was er in früheren Messvertonungen erprobt und perfektioniert hat. Gleichzeitig weist die kompositorische Sprache voraus auf die Mitte des 16. Jahrhunderts. In diesem Werk liegt das Hauptaugenmerk endgültig und uneingeschränkt auf der Kunst der Imitation, die alle Stimmen als gleichberechtigt behandelt. Die Art und Weise, wie Josquin die sechs kurzen Phrasen der zugrundeliegenden Choralmelodie (die ursprünglich von Thomas von Aquin für das Fronleichnamsfest geschrieben wurde) so unkompliziert und ausgewogen auf alle vier Stimmen verteilt, hatte für die Musik der Renaissance in ganz Europa weitreichende Auswirkungen.

Nach der Missa Pange lingua ließ Josquin die Gattung hinter sich und wandte sich kleineren Formen zu.

Die Komposition der Missa Pange lingua wird üblicherweise nach 1514 angesetzt. In diesem Jahr veröffentlichte Ottaviano Petrucci das dritte und letzte Buch seines Missarum Josquin, in dem sie nicht enthalten ist. Da Josquin zu dieser Zeit wieder im französischen Condé-sur-l’Escaut lebte, weit weg von Petrucci im italienischen Fossombrone, könnte es aber durchaus sein, dass Josquin die Messe früher schrieb und Petrucci davon schlicht nichts mitbekam. Die Tatsache, dass Pange lingua um 1515 plötzlich in sieben Quellen in ganz Europa auftaucht, könnte auf ein deutlich früheres Entstehungsdatum hindeuten. Aber ungeachtet dessen haben wir es hier nichtsdestotrotz mit Josquins letzter Messe zu tun – falls nicht doch Mater patris später entstand –, die er im Alter von über 60 Jahren schrieb. Danach ließ er die Gattung hinter sich und wandte sich kleineren, mehr als vierstimmigen Formen zu.

Die Klangwelt dieser Messe wird entscheidend von den Stimmumfängen geprägt, die sich hier der modernen SATB-Praxis annähern, vor allem dann, wenn man die Messe um eine kleine Terz nach oben transponiert, wie es sich in den vergangenen Jahrzehnten als gängige Praxis etabliert hat. Nach wie vor überschneiden sich die beiden Mittelstimme häufig, doch obwohl sie sich in ihrem tiefsten Ton gleichen, liegt zwischen ihren Spitzentönen eine Terz – in allen anderen Messen ist es höchstens eine Sekunde. Dieser Unterschied macht viel von der Wirkung dieses Stücks aus – man spürt eine größere klangliche Offenheit.

Das langsame Zurücktreten der Choralmelodie in den mittleren Sätzen ist einmalig. Josquin wollte in seiner letzten Messvertonung weite, offene Räume schaffen.

Diese Transparenz wird von mathematischen Kunstgriffen und strengen Kanons nicht getrübt. Pange lingua ist eher mit der Missa Malheur me bat als der Sine nomine vergleichbar, indem auch hier die Vorlage – in diesem Fall einstimmig – mit derselben oder gar noch größerer Raffinesse in die vorgegebene Struktur integriert wird. Um es genauer zu sagen: Die ersten neun Takte des Kyrie basieren auf der ersten Phrase der Choralmelodie. Der nächste Abschnitt basiert auf der zweiten Phrase, das Christe auf Phrasen drei und vier und das zweite Kyrie schließlich auf Phrasen fünf und sechs. Danach tauchen nur noch ein paar Phrasen des Hymnus im Gloria, Credo und Sanctus auf, mit Ausnahme eines vollständigen Zitats im dritten Agnus Dei. Dieses langsame Zurücktreten der Choralmelodie in den mittleren Sätzen ist ebenfalls einmalig. Josquin wollte in seiner letzten Messvertonung weite, offene Räume schaffen.

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Die Missa Pange lingua, hier unter ihrem alternativen Titel Missa De venerabili sacramento, in einer Handschrift aus den 1520er Jahren (© Österreichische Nationalbibliothek)

Neben den langen Duetten bei „Pleni sunt caeli“ und im zweiten Agnus Dei (die beide zeitweise wie Kanons wirken, es im strengen Sinne aber nicht sind) halten das Benedictus, das „Hosanna“ und das Agnus Dei III die faszinierendsten Abschnitte bereit. Das Benedictus, in dem die bis dahin übliche Praxis miteinander verknüpfter Duette noch einen Schritt weiter getrieben wird und lediglich zwei Stimmen in ein fragiles Zwiegespräch miteinander treten, ist wahrhaft kühn konzipiert. Einen Komponisten wie Josquin, der kompositorisch bereits alles erreicht hatte, faszinierte diese Simplizität. Das „Hosanna“ mit seinen wohlüberlegten Wechseln zwischen geradem und ungeradem Metrum ist ebenfalls außergewöhnlich. In anderen Hosannas, etwa in Ave maris stella oder Malheur me bat, geschehen diese Wechsel sehr schnell, oder beide Metren erklingen gleich zur selben Zeit. Hier sind die einzelnen Abschnitte deutlich gewichtiger und klar voneinander abgegrenzt.

Das dritte Agnus Dei bildet auch in der Missa Pange lingua den krönenden Abschluss, der alles Vorangegangene in sich aufnimmt, in diesem Fall jedoch unter Verzicht auf Kanons. Stattdessen zitiert Josquin einfach zum ersten Mal in der gesamten Messe die Choralmelodie vollständig. Zunächst ist sie in langen Notenwerten zu hören, dann in einer mehr oder weniger freien Verarbeitung. Gegen Ende des Satzes wird aus ihren letzten sechs Noten ein friedvolles Motiv gebildet, dass dem Schlussabschnitt den Charakter eines eindringlichen Gebets verleiht.

© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Christoph Schaller





Die Messen

Die Messen

Jan van Eyck, Genter Altar (1432, Ausschnitt) © artinflanders.be (Foto: Hugo Maertens, Dominique Provost)

Achtzehn Mal hat Josquin den Text des lateinischen Messordinariums in Musik gesetzt und dabei für jede seiner Vertonungen eine ganz eigene kompositorische Methode und Klangwelt geschaffen. Lernen Sie die musikalische Vielfalt der Messen mit den preisgekrönten Aufnahmen der Tallis Scholars und Essays ihres Gründers und künstlerischen Leiters Peter Phillips kennen.

Missa Une mousse de Biscaye

Die spätmittelalterlichen Wurzeln von Josquins Musiksprache sind in der Missa Une Mousse de Biscaye, einer seiner ersten Messvertonungen überhaupt, vielleicht am deutlichsten zu hören.

Missa L’ami Baudichon

Schon zu Beginn seiner Laufbahn experimentierte Josquin in der frühen Missa L’ami Baudichon mit den Möglichkeiten der Form.

Missa Ad fugam

Komplexe Kanons waren für alle Komponisten des 15. Jahrhunderts eine wichtige Bewährungsprobe. Josquin schrieb zwei Messen, die vollständig auf Kanons basieren – Ad fugam, die frühere der beiden, ist womöglich sein mathematisch strengstes Werk.

Missa Di dadi

Kann man eine Renaissance-Messe durch Auswürfeln komponieren? Die Missa Di dadi zeigt Josquins Leidenschaft für mathematische Spielereien – und für das Glücksspiel.

Missa D’ung aultre amer

Josquins kürzeste Messvertonung basiert auf einer Chanson seines Lehrers Johannes Ockeghem und enthält eine bewegende musikalische Verneigung vor dem älteren Komponisten.

Missa Gaudeamus

Die Missa Gaudeamus verkörpert die Kunstfertigkeit der Renaissance in ihrer intensivsten Form. Ausgehend von einer umfangreichen Choralmelodie kommen hier ausgeklügelte und tatsächlich hörbare mathematische Kompositionsverfahren zum Einsatz.

Missa La sol fa re mi

Der Name ist Programm: Missa La sol fa re mi basiert auf den fünf Noten, die diesen Solmisationssilben im mittelalterlichen Tonsystem entsprechen. Mit einem derart kurzen und vielseitigen Motiv eröffnete sich Josquin ungeahnte Möglichkeiten der musikalischen Bezüge und Verweise.

Missa Hercules Dux Ferrariae

Für seinen damaligen Arbeitgeber Herzog Ercole I. von Ferrara verwandelte Josquin kurzerhand dessen Namen in ein musikalisches Motiv und komponierte auf dieser Grundlage eine ganze Messe.

Missa Faysant regretz

Aus einem einfachen Viertonmotiv konstruiert Josquin in der Missa Faysant regretz seine vielleicht dichteste und mitreißendste Polyphonie, eine Welt von vielgestaltigen, umherwirbelnden Anspielungen und Verweisen.

Missa Ave maris stella

Kompakt, geschmeidig, prägnant – die Missa Ave maris stella ist das Werk eines sehr selbstbewussten Komponisten, der nicht nur sein Handwerkszeug souverän beherrscht, sondern seiner ganzen Zunft den Weg in die Zukunft weist.

Missa Fortuna desperata

Das Rad der Fortuna dreht sich in Josquins Missa Fortuna desperata – einer der ersten Messen überhaupt, die nicht mehr auf einer einfachen Melodie, sondern auf einer mehrstimmigen Vorlage basieren.

Missa L’homme armé super voces musicales

In der Missa L’homme armé super voces musicales finden sich einige von Josquins mathematisch komplexesten Kompositions-Kniffen – eine Demonstration seiner kombinatorischen Fähigkeiten und ein echtes Wunderwerk für seine Zeitgenossen.

Missa L’homme armé sexti toni

Josquins zweite Messvertonung auf Grundlage der populären L’homme-armé-Melodie wirkt wie eine freie Fantasie über das Lied vom „bewaffneten Mann“ – die große Bandbreite an Texturen und scheinbar mühelos gesetzte Kanons erinnern an minimalistische Klangwelten à la Philip Glass.

Missa Malheur me bat

Viele von Josquins Messvertonungen finden ihren Höhepunkt im letzten Satz, nicht unähnlich einer romantischen Symphonie: Das Agnus Dei der Missa Malheur me bat ist ein beeindruckendes Beispiel dafür.

Missa Sine nomine

Die „namenlose“ Missa Sine nomine ist Josquins zweite rein kanonische Messe und zeigt seine ganze Erfahrung mit mathematischen Kompositionstechniken.

Missa De beata virgine

Zu Josquins Lebzeiten wurde diese Messe von allen seinen Werken wahrscheinlich am häufigsten aufgeführt – und sie faszinierte die Musiktheoretiker noch bis ins 18. Jahrhundert.

Missa Mater Patris

Missa Mater Patris steht für die kühne Schlichtheit des späten Josquin: Kein dichtes polyphones Geflecht mehr, sondern lichte, offene Strukturen, viel Witz und Verspieltheit.

Missa Pange lingua

Wahrscheinlich ist sie Josquins letzte Messe – ganz sicher aber eine seiner besten: Die Gleichberechtigung aller vier Stimmen in der Missa Pange lingua hat den weiteren Verlauf der europäischen Musikgeschichte entscheidend geprägt.