Die Missa D’ung aultre amer ist in mancher Hinsicht ein Sonderfall im Korpus von Josquins Messvertonungen. Sie ist mit einigem Abstand seine kürzeste Messe, nur 364 Takte lang, während alle anderen mehr als 500 umfassen und die längste, De beata virgine, sogar 882. Der Grund für die Kürze liegt im syllabischen Stil, insbesondere im Gloria und Credo, wo die Texte ineinandergeschoben und verschiedene Abschnitte gleichzeitig gesungen werden. Im Kyrie, Sanctus und Agnus ist trotz kurzer Phrasen eine größere Freiheit spürbar – besonders ungewöhnlich ist, dass das Kyrie länger ausfällt als das Gloria.
Dieser Stil rührt wahrscheinlich von der Gattung der polyphonen Laude her, die innerhalb der ambrosianischen Liturgie Mailands, wo Josquin in den 1480er Jahre arbeitete, eine wichtige Stellung einnahmen. Ein weiteres Charakteristikum dieser Tradition war es, das Benedictus und zweite „Hosanna“ durch eine Motette zu ersetzen – hier erklingt an dieser Stelle Tu solus qui facis mirabilia.
Tu solus qui facis besteht aus perfekt platzierten, feierlichen und klangvollen Akkorden, die eine unvergleichliche Atmosphäre der Ruhe und Introspektion schaffen.
In dieser Messe fehlt es an Platz für die Zurschaustellung polyphoner oder klanglicher Kunststücke. Weder gibt es Duette (alle drei Agnus Deis etwa sind sehr kurz gehalten und vollbesetzt), noch Kanons, noch zusätzliche Stimmen. Im Mittelpunkt stehen hier ausnahmsweise schlichte Akkorde, insbesondere in der Motette Tu solus qui facis mirabilia. Man sollte meinen, dass sich homophone Akkorde einfacher setzen lassen als komplexe Polyphonie – und doch zeigt sich immer wieder, wie schnell diese Art von Musik bei vielen Komponisten ins Vorhersehbare und Langweilige umschlagen kann. Tu solus qui facis hingegen besteht aus perfekt platzierten, feierlichen und klangvollen Akkorden, die eine unvergleichliche Atmosphäre der Ruhe und Introspektion schaffen.
Hinter ihnen, und auch hinter vielen Details der restlichen Vertonung, steht die Chanson D’ung aultre amer von Johannes Ockeghem. Josquin verehrte Ockeghem mehr als alle anderen Musiker. Er wollte ihm hiermit seinen Tribut zollen – dass ihm das gelang, selbst wo die Liturgie Zurückhaltung forderte, zeigt, dass er jeder Herausforderung gewachsen war.
© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Viola Scheffel