Diese Frage fand Josquin offenbar reizvoll: in seiner Missa Di dadi stellte er der Tenorstimme in mehreren Sätzen ein Würfelpaar mit verschiedenen Augenzahlen voran. Und er wusste, wie man spielt, denn zur Entstehungszeit lebte er an einem Ort, an dem das Glücksspiel so verbreitet war, dass es sogar seinen Weg in die heilige Messe fand.
Das Mailand des ausgehenden 15. Jahrhunderts unter der Herrschaft der Sforza war als Glücksspielmetropole weithin bekannt.
Das Mailand des ausgehenden 15. Jahrhunderts unter der Herrschaft der Sforza war als Glücksspielmetropole weithin bekannt – die herzogliche Familie nahm dabei eine führende Rolle ein. Da es zuverlässige Hinweise darauf gibt, dass Josquin in den 1480er Jahren in der Stadt tätig war, kann man wohl davon ausgehen, dass er der Mode sowohl bei Hof als auch im Privaten folgte. Das wäre jedenfalls eine plausible Erklärung dafür, weshalb er die Würfel in das Notationsschema der Messe einfügte – möglicherweise als freundschaftlichen Wink an die Sänger, und um vom Herzog Anerkennung zu ernten. Aber würfelte er auch den Kompositionsplan aus?
Auf den ersten Blick scheinen die Würfel anzuzeigen, wie die Tenöre die Töne der Chansonmelodie, die der Messe zugrunde liegt, innerhalb ihrer Stimme verteilen müssen – als cantus firmus dient Josquin die Tenorstimme der Chanson N’aray je jamais mieulx von Robert Morton. So steht etwa vor dem Kyrie ein Würfelpaar, das eine Eins und eine Zwei anzeigt – das heißt die Tenöre müssen die Notenwerte des cantus firmus verdoppeln, damit sie mit den anderen drei Stimmen zusammenpassen. Im Gloria zeigen die Würfel eine Vier und eine Eins an, also sollen die Tondauern der Chanson hier vervierfacht werden. Im Credo wird sechs zu eins angezeigt, im Sanctus fünf zu eins – so weit, so gut.
Doch ergeben sich dabei diverse Probleme. Im Credo muss die Proportion zwölf zu eins sein, nicht sechs, sonst passen die Töne nicht. Im Sanctus lässt sich die Vorgabe von fünf zu eins nicht mit allen Noten des Originals realisieren, sondern nur mit den längeren Notenwerten. Und dann finden sich nach dem „Pleni sunt caeli“ plötzlich gar keine Würfel mehr. Zum Glück dachte Ottaviano Petrucci, der Verleger der Messe, mit und notierte die jeweils korrekten Auflösungen der Tenorstimmen aus. Obwohl damit die Würfel eigentlich überflüssig wurden, hielt er sie dennoch für wichtig genug, um sie trotzdem mit abzudrucken – was uns wiederum auf die Frage zurückbringt: Warum sind sie da?
Dazu sind viele Theorien aufgestellt worden. Einige Erklärungen meinen in der ersten Textzeile der Chanson, „N’aray je jamais mieulx“ („Soll mir nie Besseres zuteilwerden, als ich habe?“), einen Hinweis erkennen zu können. Ob diese Überschrift jedoch eine religiöse Bedeutung hat oder rein weltlicher Natur ist, bleibt unklar. Handelt es sich vielleicht um nicht mehr als eine konventionelle Liebesklage? Oder die Beschwerde eines gierigen Spielers? Oder ist es die Bitte der leidenden Seele um Erlösung? Diese letzte Möglichkeit ist von mehreren Untersuchungen aufgegriffen worden, die nahelegen, dass das Verschwinden der Würfel nach dem „Pleni sunt caeli“ darauf hindeuten könnte, dass sich genau zu diesem Zeitpunkt im Ablauf der Messe ein Stimmungswechsel vollzog, wobei das folgende „Hosanna“ und Benedictus als Rahmen für die Wandlung bzw. die Transsubstantiation dienen. Da es sich dabei um den wichtigsten und zentralen Moment der Messe handelt, ist es es kaum überraschend, dass er von Josquin musikalisch besonders hervorgehoben wurde.
Ein weiteres Detail ist von Bedeutung: In den mit Würfeln versehenen Abschnitten zitiert Josquin nur die ersten sechs Takte von Mortons Tenorstimme. Im „Hosanna“ jedoch (und auch im Agnus Dei) lässt er den Tenorpart der Chanson – insgesamt 23 Takte – vollständig erklingen, was erklärt, weshalb diese Sätze plötzlich deutlich umfangreicher sind als die vorherigen. Und wenn die Mortonsche Melodie im dritten Agnus zum letzten Mal zitiert wird, übergibt sie Josquin schließlich den Bässen und lässt sie nicht mehr auf G, sondern auf einem D erklingen, wie in Mortons Original – und erzielt damit eine überzeugende Schlusswirkung.
© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Viola Scheffel