Missa Di dadi

Kann man eine Renaissance-Messe durch Auswürfeln komponieren?

Diese Frage fand Josquin offenbar reizvoll: in seiner Missa Di dadi stellte er der Tenorstimme in mehreren Sätzen ein Würfelpaar mit verschiedenen Augenzahlen voran. Und er wusste, wie man spielt, denn zur Entstehungszeit lebte er an einem Ort, an dem das Glücksspiel so verbreitet war, dass es sogar seinen Weg in die heilige Messe fand.

Das Mailand des ausgehenden 15. Jahrhunderts unter der Herrschaft der Sforza war als Glücksspielmetropole weithin bekannt.

Das Mailand des ausgehenden 15. Jahrhunderts unter der Herrschaft der Sforza war als Glücksspielmetropole weithin bekannt – die herzogliche Familie nahm dabei eine führende Rolle ein. Da es zuverlässige Hinweise darauf gibt, dass Josquin in den 1480er Jahren in der Stadt tätig war, kann man wohl davon ausgehen, dass er der Mode sowohl bei Hof als auch im Privaten folgte. Das wäre jedenfalls eine plausible Erklärung dafür, weshalb er die Würfel in das Notationsschema der Messe einfügte – möglicherweise als freundschaftlichen Wink an die Sänger, und um vom Herzog Anerkennung zu ernten. Aber würfelte er auch den Kompositionsplan aus?

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Würfelspieler in einer Ausgabe von Bocaccios Decamerone aus dem 15. Jahrhundert (© Wikimedia Commons)

Auf den ersten Blick scheinen die Würfel anzuzeigen, wie die Tenöre die Töne der Chansonmelodie, die der Messe zugrunde liegt, innerhalb ihrer Stimme verteilen müssen – als cantus firmus dient Josquin die Tenorstimme der Chanson N’aray je jamais mieulx von Robert Morton. So steht etwa vor dem Kyrie ein Würfelpaar, das eine Eins und eine Zwei anzeigt – das heißt die Tenöre müssen die Notenwerte des cantus firmus verdoppeln, damit sie mit den anderen drei Stimmen zusammenpassen. Im Gloria zeigen die Würfel eine Vier und eine Eins an, also sollen die Tondauern der Chanson hier vervierfacht werden. Im Credo wird sechs zu eins angezeigt, im Sanctus fünf zu eins – so weit, so gut.

Doch ergeben sich dabei diverse Probleme. Im Credo muss die Proportion zwölf zu eins sein, nicht sechs, sonst passen die Töne nicht. Im Sanctus lässt sich die Vorgabe von fünf zu eins nicht mit allen Noten des Originals realisieren, sondern nur mit den längeren Notenwerten. Und dann finden sich nach dem „Pleni sunt caeli“ plötzlich gar keine Würfel mehr. Zum Glück dachte Ottaviano Petrucci, der Verleger der Messe, mit und notierte die jeweils korrekten Auflösungen der Tenorstimmen aus. Obwohl damit die Würfel eigentlich überflüssig wurden, hielt er sie dennoch für wichtig genug, um sie trotzdem mit abzudrucken – was uns wiederum auf die Frage zurückbringt: Warum sind sie da?

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Die Missa Di dadi in Ottaviano Petruccis Missarum Josquin, 1514 (© Österreichische Nationalbibliothek Wien)

Dazu sind viele Theorien aufgestellt worden. Einige Erklärungen meinen in der ersten Textzeile der Chanson, „N’aray je jamais mieulx“ („Soll mir nie Besseres zuteilwerden, als ich habe?“), einen Hinweis erkennen zu können. Ob diese Überschrift jedoch eine religiöse Bedeutung hat oder rein weltlicher Natur ist, bleibt unklar. Handelt es sich vielleicht um nicht mehr als eine konventionelle Liebesklage? Oder die Beschwerde eines gierigen Spielers? Oder ist es die Bitte der leidenden Seele um Erlösung? Diese letzte Möglichkeit ist von mehreren Untersuchungen aufgegriffen worden, die nahelegen, dass das Verschwinden der Würfel nach dem „Pleni sunt caeli“ darauf hindeuten könnte, dass sich genau zu diesem Zeitpunkt im Ablauf der Messe ein Stimmungswechsel vollzog, wobei das folgende „Hosanna“ und Benedictus als Rahmen für die Wandlung bzw. die Transsubstantiation dienen. Da es sich dabei um den wichtigsten und zentralen Moment der Messe handelt, ist es es kaum überraschend, dass er von Josquin musikalisch besonders hervorgehoben wurde.

Ein weiteres Detail ist von Bedeutung: In den mit Würfeln versehenen Abschnitten zitiert Josquin nur die ersten sechs Takte von Mortons Tenorstimme. Im „Hosanna“ jedoch (und auch im Agnus Dei) lässt er den Tenorpart der Chanson – insgesamt 23 Takte – vollständig erklingen, was erklärt, weshalb diese Sätze plötzlich deutlich umfangreicher sind als die vorherigen. Und wenn die Mortonsche Melodie im dritten Agnus zum letzten Mal zitiert wird, übergibt sie Josquin schließlich den Bässen und lässt sie nicht mehr auf G, sondern auf einem D erklingen, wie in Mortons Original – und erzielt damit eine überzeugende Schlusswirkung.

© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Viola Scheffel





Die Messen

Die Messen

Jan van Eyck, Genter Altar (1432, Ausschnitt) © artinflanders.be (Foto: Hugo Maertens, Dominique Provost)

Achtzehn Mal hat Josquin den Text des lateinischen Messordinariums in Musik gesetzt und dabei für jede seiner Vertonungen eine ganz eigene kompositorische Methode und Klangwelt geschaffen. Lernen Sie die musikalische Vielfalt der Messen mit den preisgekrönten Aufnahmen der Tallis Scholars und Essays ihres Gründers und künstlerischen Leiters Peter Phillips kennen.

Missa Une mousse de Biscaye

Die spätmittelalterlichen Wurzeln von Josquins Musiksprache sind in der Missa Une Mousse de Biscaye, einer seiner ersten Messvertonungen überhaupt, vielleicht am deutlichsten zu hören.

Missa L’ami Baudichon

Schon zu Beginn seiner Laufbahn experimentierte Josquin in der frühen Missa L’ami Baudichon mit den Möglichkeiten der Form.

Missa Ad fugam

Komplexe Kanons waren für alle Komponisten des 15. Jahrhunderts eine wichtige Bewährungsprobe. Josquin schrieb zwei Messen, die vollständig auf Kanons basieren – Ad fugam, die frühere der beiden, ist womöglich sein mathematisch strengstes Werk.

Missa Di dadi

Kann man eine Renaissance-Messe durch Auswürfeln komponieren? Die Missa Di dadi zeigt Josquins Leidenschaft für mathematische Spielereien – und für das Glücksspiel.

Missa D’ung aultre amer

Josquins kürzeste Messvertonung basiert auf einer Chanson seines Lehrers Johannes Ockeghem und enthält eine bewegende musikalische Verneigung vor dem älteren Komponisten.

Missa Gaudeamus

Die Missa Gaudeamus verkörpert die Kunstfertigkeit der Renaissance in ihrer intensivsten Form. Ausgehend von einer umfangreichen Choralmelodie kommen hier ausgeklügelte und tatsächlich hörbare mathematische Kompositionsverfahren zum Einsatz.

Missa La sol fa re mi

Der Name ist Programm: Missa La sol fa re mi basiert auf den fünf Noten, die diesen Solmisationssilben im mittelalterlichen Tonsystem entsprechen. Mit einem derart kurzen und vielseitigen Motiv eröffnete sich Josquin ungeahnte Möglichkeiten der musikalischen Bezüge und Verweise.

Missa Hercules Dux Ferrariae

Für seinen damaligen Arbeitgeber Herzog Ercole I. von Ferrara verwandelte Josquin kurzerhand dessen Namen in ein musikalisches Motiv und komponierte auf dieser Grundlage eine ganze Messe.

Missa Faysant regretz

Aus einem einfachen Viertonmotiv konstruiert Josquin in der Missa Faysant regretz seine vielleicht dichteste und mitreißendste Polyphonie, eine Welt von vielgestaltigen, umherwirbelnden Anspielungen und Verweisen.

Missa Ave maris stella

Kompakt, geschmeidig, prägnant – die Missa Ave maris stella ist das Werk eines sehr selbstbewussten Komponisten, der nicht nur sein Handwerkszeug souverän beherrscht, sondern seiner ganzen Zunft den Weg in die Zukunft weist.

Missa Fortuna desperata

Das Rad der Fortuna dreht sich in Josquins Missa Fortuna desperata – einer der ersten Messen überhaupt, die nicht mehr auf einer einfachen Melodie, sondern auf einer mehrstimmigen Vorlage basieren.

Missa L’homme armé super voces musicales

In der Missa L’homme armé super voces musicales finden sich einige von Josquins mathematisch komplexesten Kompositions-Kniffen – eine Demonstration seiner kombinatorischen Fähigkeiten und ein echtes Wunderwerk für seine Zeitgenossen.

Missa L’homme armé sexti toni

Josquins zweite Messvertonung auf Grundlage der populären L’homme-armé-Melodie wirkt wie eine freie Fantasie über das Lied vom „bewaffneten Mann“ – die große Bandbreite an Texturen und scheinbar mühelos gesetzte Kanons erinnern an minimalistische Klangwelten à la Philip Glass.

Missa Malheur me bat

Viele von Josquins Messvertonungen finden ihren Höhepunkt im letzten Satz, nicht unähnlich einer romantischen Symphonie: Das Agnus Dei der Missa Malheur me bat ist ein beeindruckendes Beispiel dafür.

Missa Sine nomine

Die „namenlose“ Missa Sine nomine ist Josquins zweite rein kanonische Messe und zeigt seine ganze Erfahrung mit mathematischen Kompositionstechniken.

Missa De beata virgine

Zu Josquins Lebzeiten wurde diese Messe von allen seinen Werken wahrscheinlich am häufigsten aufgeführt – und sie faszinierte die Musiktheoretiker noch bis ins 18. Jahrhundert.

Missa Mater Patris

Missa Mater Patris steht für die kühne Schlichtheit des späten Josquin: Kein dichtes polyphones Geflecht mehr, sondern lichte, offene Strukturen, viel Witz und Verspieltheit.

Missa Pange lingua

Wahrscheinlich ist sie Josquins letzte Messe – ganz sicher aber eine seiner besten: Die Gleichberechtigung aller vier Stimmen in der Missa Pange lingua hat den weiteren Verlauf der europäischen Musikgeschichte entscheidend geprägt.