Die Missa Fortuna desperata basiert auf einer dreistimmigen weltlichen Chanson aus der Feder von Antoine Busnoys, wobei die Quellen diese Zuordnung nicht eindeutig belegen. Vor Josquin nutzten Komponisten üblicherweise eine Stimme des Originals, meistens den Tenor, als Vorlage für ihre Messen und leiteten alle Motive aus dieser Stimme ab – eine sogenannte Paraphrase. In Fortuna desperata ging Josquin jedoch einen Schritt weiter und bediente sich nicht nur aus einer, sondern aus allen drei Stimmen und verdreifachte so also auf einen Schlag das musikalische Material, das er verwenden konnte.
Die Missa Fortuna desperata ist eines der frühesten Beispiele für ein polyphones Parodieverfahren, eine Technik, die Josquin später weiter perfektioniert hat.
Fortuna desperata ist eines der frühesten Beispiele für dieses polyphone Parodieverfahren, eine Technik, die Josquin in seiner späteren Missa Malheur me bat weiter perfektioniert hat. Diese Kompositionstechniken sind erstaunlich kompliziert. Praktisch jedem Takt in Fortuna desperata (und ganz ähnlich in Malheur me bat) liegt ein Zitat aus der Vorlage zugrunde, wobei Josquin offenbar willkürlich entschieden hat, aus welcher der drei Stimmen er sein Material generierte, ob eine oder mehrere gleichzeitig genutzt werden (an den Satzanfängen sind meist alle drei zu finden) und in welcher Geschwindigkeit das Original zitiert wird.
Im Allgemeinen konstruiert Josquin seine polyphonen Sätze aus relativ kurzen Motiven, die oft in Sequenzen wiederholt und damit zu wiedererkennbaren Bausteinen werden (das Sanctus ist ein gutes Beispiel dafür). Oft ist sein Einfallsreichtum jedoch nicht so deutlich hörbar. Am besten kann man das Chanson-Material dort erkennen, wo Josquin es in sehr langen Notenwerten wiedergibt – etwa im Credo, wo die Oberstimme der Chanson viermal in der Oberstimme der Messe zitiert wird, und zwar in schrittweise diminuierten, d.h. verkleinerten Notenwerten (im Verhältnis 8:4:3:2). Das verleiht dem Satz eine energische Steigerung seinem Ende entgegen – das letzte Zitat ist viermal so schnell wie das erste.
Bewusst aufnehmen kann man das beim bloßen Hören nicht. Aber unterbewusst wird der Geist verzaubert.
Nicht unähnlich einer romantischen Symphonie findet auch diese kunstvolle Art der Messvertonung ihren Höhepunkt im letzten „Satz“. Mit wachsender kompositorischer Erfahrung, die dem Agnus Dei zugrundeliegt, und ebenso gesteigertem Symbolismus, der den zugrundeliegenden Melodien inhärent ist, verleiht Josquin seinem musikalischen Ausdruck „symphonische“ Breite. Das Agnus Dei der Missa Fortuna desperata besteht im Gegensatz zu den üblicheren drei Anrufungen nur aus zwei; allerdings könnte zwischen ihnen ursprünglich ein zweistimmiger Abschnitt gestanden haben, der im Laufe der Jahrhunderte verloren ging. Wiederum befinden wir uns in der Welt der Baustein-Motive, diesmal über einer Bassstimme mit sehr langen Noten, die zuweilen auch die besonders klangvollen Tiefen der Stimme erkundet. Im ersten Agnus Dei leiten sich diese Bassnoten aus der ursprünglichen Oberstimme der Chanson ab, indem das Original um eine Duodezime nach unten transponiert, augmentiert und umgekehrt wird.
Das zweite Agnus Dei ist nach demselben Prinzip angelegt, nur dass hier die langen Bassnoten aus dem Tenor der Chanson stammen, eine Oktave nach unten transponiert und nicht umgekehrt sind. Es gibt die Theorie, dass die Umkehrung im ersten Agnus Dei eine katastrophale Wendung des Rads der Fortuna symbolisieren könnte, während das zweite Agnus mit der nicht umgekehrten Melodie die Rückkehr zur Normalität darstellt. Wie man zu diesem durchaus plausiblen Symbolismus auch stehen mag – es besteht jedenfalls kein Zweifel, dass Josquin die Messe durch diesen abschließenden Rückblick auf die Themen, die sich durch die vorangegangenen Sätze gezogen haben, zu einem äußerst befriedigenden Ende bringt. Bewusst aufnehmen kann man das beim bloßen Hören nicht. Dazu braucht man die Partitur, und selbst dann ist es nicht einfach, alle Zitate und Verweise zu erkennen. Aber unterbewusst wird der Geist verzaubert.
© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Viola Scheffel