Missa Fortuna desperata

Josquins Missa Fortuna desperata ist eine der ersten Messen überhaupt, die nicht mehr auf einer einfachen Melodie, sondern auf einer mehrstimmigen Vorlage basieren.

Die Missa Fortuna desperata basiert auf einer dreistimmigen weltlichen Chanson aus der Feder von Antoine Busnoys, wobei die Quellen diese Zuordnung nicht eindeutig belegen. Vor Josquin nutzten Komponisten üblicherweise eine Stimme des Originals, meistens den Tenor, als Vorlage für ihre Messen und leiteten alle Motive aus dieser Stimme ab – eine sogenannte Paraphrase. In Fortuna desperata ging Josquin jedoch einen Schritt weiter und bediente sich nicht nur aus einer, sondern aus allen drei Stimmen und verdreifachte so also auf einen Schlag das musikalische Material, das er verwenden konnte.

Die Missa Fortuna desperata ist eines der frühesten Beispiele für ein polyphones Parodieverfahren, eine Technik, die Josquin später weiter perfektioniert hat.

Fortuna desperata ist eines der frühesten Beispiele für dieses polyphone Parodieverfahren, eine Technik, die Josquin in seiner späteren Missa Malheur me bat weiter perfektioniert hat. Diese Kompositionstechniken sind erstaunlich kompliziert. Praktisch jedem Takt in Fortuna desperata (und ganz ähnlich in Malheur me bat) liegt ein Zitat aus der Vorlage zugrunde, wobei Josquin offenbar willkürlich entschieden hat, aus welcher der drei Stimmen er sein Material generierte, ob eine oder mehrere gleichzeitig genutzt werden (an den Satzanfängen sind meist alle drei zu finden) und in welcher Geschwindigkeit das Original zitiert wird.

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Das Rad der Fortuna, Illustration aus Christine de Pizans Epitre d'Othéa (zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts, © Wikimedia Commons)

Im Allgemeinen konstruiert Josquin seine polyphonen Sätze aus relativ kurzen Motiven, die oft in Sequenzen wiederholt und damit zu wiedererkennbaren Bausteinen werden (das Sanctus ist ein gutes Beispiel dafür). Oft ist sein Einfallsreichtum jedoch nicht so deutlich hörbar. Am besten kann man das Chanson-Material dort erkennen, wo Josquin es in sehr langen Notenwerten wiedergibt – etwa im Credo, wo die Oberstimme der Chanson viermal in der Oberstimme der Messe zitiert wird, und zwar in schrittweise diminuierten, d.h. verkleinerten Notenwerten (im Verhältnis 8:4:3:2). Das verleiht dem Satz eine energische Steigerung seinem Ende entgegen – das letzte Zitat ist viermal so schnell wie das erste.

Bewusst aufnehmen kann man das beim bloßen Hören nicht. Aber unterbewusst wird der Geist verzaubert.

Nicht unähnlich einer romantischen Symphonie findet auch diese kunstvolle Art der Messvertonung ihren Höhepunkt im letzten „Satz“. Mit wachsender kompositorischer Erfahrung, die dem Agnus Dei zugrundeliegt, und ebenso gesteigertem Symbolismus, der den zugrundeliegenden Melodien inhärent ist, verleiht Josquin seinem musikalischen Ausdruck „symphonische“ Breite. Das Agnus Dei der Missa Fortuna desperata besteht im Gegensatz zu den üblicheren drei Anrufungen nur aus zwei; allerdings könnte zwischen ihnen ursprünglich ein zweistimmiger Abschnitt gestanden haben, der im Laufe der Jahrhunderte verloren ging. Wiederum befinden wir uns in der Welt der Baustein-Motive, diesmal über einer Bassstimme mit sehr langen Noten, die zuweilen auch die besonders klangvollen Tiefen der Stimme erkundet. Im ersten Agnus Dei leiten sich diese Bassnoten aus der ursprünglichen Oberstimme der Chanson ab, indem das Original um eine Duodezime nach unten transponiert, augmentiert und umgekehrt wird.

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Das Agnus Dei der Missa Fortuna desperata in einer zeitgenössischen Abschrift (um 1520, © Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 11778)

Das zweite Agnus Dei ist nach demselben Prinzip angelegt, nur dass hier die langen Bassnoten aus dem Tenor der Chanson stammen, eine Oktave nach unten transponiert und nicht umgekehrt sind. Es gibt die Theorie, dass die Umkehrung im ersten Agnus Dei eine katastrophale Wendung des Rads der Fortuna symbolisieren könnte, während das zweite Agnus mit der nicht umgekehrten Melodie die Rückkehr zur Normalität darstellt. Wie man zu diesem durchaus plausiblen Symbolismus auch stehen mag – es besteht jedenfalls kein Zweifel, dass Josquin die Messe durch diesen abschließenden Rückblick auf die Themen, die sich durch die vorangegangenen Sätze gezogen haben, zu einem äußerst befriedigenden Ende bringt. Bewusst aufnehmen kann man das beim bloßen Hören nicht. Dazu braucht man die Partitur, und selbst dann ist es nicht einfach, alle Zitate und Verweise zu erkennen. Aber unterbewusst wird der Geist verzaubert.

© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Viola Scheffel





Die Messen

Die Messen

Jan van Eyck, Genter Altar (1432, Ausschnitt) © artinflanders.be (Foto: Hugo Maertens, Dominique Provost)

Achtzehn Mal hat Josquin den Text des lateinischen Messordinariums in Musik gesetzt und dabei für jede seiner Vertonungen eine ganz eigene kompositorische Methode und Klangwelt geschaffen. Lernen Sie die musikalische Vielfalt der Messen mit den preisgekrönten Aufnahmen der Tallis Scholars und Essays ihres Gründers und künstlerischen Leiters Peter Phillips kennen.

Missa Une mousse de Biscaye

Die spätmittelalterlichen Wurzeln von Josquins Musiksprache sind in der Missa Une Mousse de Biscaye, einer seiner ersten Messvertonungen überhaupt, vielleicht am deutlichsten zu hören.

Missa L’ami Baudichon

Schon zu Beginn seiner Laufbahn experimentierte Josquin in der frühen Missa L’ami Baudichon mit den Möglichkeiten der Form.

Missa Ad fugam

Komplexe Kanons waren für alle Komponisten des 15. Jahrhunderts eine wichtige Bewährungsprobe. Josquin schrieb zwei Messen, die vollständig auf Kanons basieren – Ad fugam, die frühere der beiden, ist womöglich sein mathematisch strengstes Werk.

Missa Di dadi

Kann man eine Renaissance-Messe durch Auswürfeln komponieren? Die Missa Di dadi zeigt Josquins Leidenschaft für mathematische Spielereien – und für das Glücksspiel.

Missa D’ung aultre amer

Josquins kürzeste Messvertonung basiert auf einer Chanson seines Lehrers Johannes Ockeghem und enthält eine bewegende musikalische Verneigung vor dem älteren Komponisten.

Missa Gaudeamus

Die Missa Gaudeamus verkörpert die Kunstfertigkeit der Renaissance in ihrer intensivsten Form. Ausgehend von einer umfangreichen Choralmelodie kommen hier ausgeklügelte und tatsächlich hörbare mathematische Kompositionsverfahren zum Einsatz.

Missa La sol fa re mi

Der Name ist Programm: Missa La sol fa re mi basiert auf den fünf Noten, die diesen Solmisationssilben im mittelalterlichen Tonsystem entsprechen. Mit einem derart kurzen und vielseitigen Motiv eröffnete sich Josquin ungeahnte Möglichkeiten der musikalischen Bezüge und Verweise.

Missa Hercules Dux Ferrariae

Für seinen damaligen Arbeitgeber Herzog Ercole I. von Ferrara verwandelte Josquin kurzerhand dessen Namen in ein musikalisches Motiv und komponierte auf dieser Grundlage eine ganze Messe.

Missa Faysant regretz

Aus einem einfachen Viertonmotiv konstruiert Josquin in der Missa Faysant regretz seine vielleicht dichteste und mitreißendste Polyphonie, eine Welt von vielgestaltigen, umherwirbelnden Anspielungen und Verweisen.

Missa Ave maris stella

Kompakt, geschmeidig, prägnant – die Missa Ave maris stella ist das Werk eines sehr selbstbewussten Komponisten, der nicht nur sein Handwerkszeug souverän beherrscht, sondern seiner ganzen Zunft den Weg in die Zukunft weist.

Missa Fortuna desperata

Das Rad der Fortuna dreht sich in Josquins Missa Fortuna desperata – einer der ersten Messen überhaupt, die nicht mehr auf einer einfachen Melodie, sondern auf einer mehrstimmigen Vorlage basieren.

Missa L’homme armé super voces musicales

In der Missa L’homme armé super voces musicales finden sich einige von Josquins mathematisch komplexesten Kompositions-Kniffen – eine Demonstration seiner kombinatorischen Fähigkeiten und ein echtes Wunderwerk für seine Zeitgenossen.

Missa L’homme armé sexti toni

Josquins zweite Messvertonung auf Grundlage der populären L’homme-armé-Melodie wirkt wie eine freie Fantasie über das Lied vom „bewaffneten Mann“ – die große Bandbreite an Texturen und scheinbar mühelos gesetzte Kanons erinnern an minimalistische Klangwelten à la Philip Glass.

Missa Malheur me bat

Viele von Josquins Messvertonungen finden ihren Höhepunkt im letzten Satz, nicht unähnlich einer romantischen Symphonie: Das Agnus Dei der Missa Malheur me bat ist ein beeindruckendes Beispiel dafür.

Missa Sine nomine

Die „namenlose“ Missa Sine nomine ist Josquins zweite rein kanonische Messe und zeigt seine ganze Erfahrung mit mathematischen Kompositionstechniken.

Missa De beata virgine

Zu Josquins Lebzeiten wurde diese Messe von allen seinen Werken wahrscheinlich am häufigsten aufgeführt – und sie faszinierte die Musiktheoretiker noch bis ins 18. Jahrhundert.

Missa Mater Patris

Missa Mater Patris steht für die kühne Schlichtheit des späten Josquin: Kein dichtes polyphones Geflecht mehr, sondern lichte, offene Strukturen, viel Witz und Verspieltheit.

Missa Pange lingua

Wahrscheinlich ist sie Josquins letzte Messe – ganz sicher aber eine seiner besten: Die Gleichberechtigung aller vier Stimmen in der Missa Pange lingua hat den weiteren Verlauf der europäischen Musikgeschichte entscheidend geprägt.