Die Missa L’ami Baudichon entstand etwa zur selben Zeit wie die Missa Une mousse de Biscaye Mitte der 1470er Jahre. Nicht mehr als drei Töne aus einem damals populären Volkslied, die für britische Ohren sehr an den Beginn von Three Blind Mice erinnern, bilden ihre Grundlage. Für ihr Publikum stellt diese Messe kaum eine größere Herausforderung dar, sodass man ganz einfach ihren strahlenden Dur-Klang genießen kann – er ist das Ergebnis eines vergleichsweise großen Abstands zwischen der hoch liegenden Superius-Stimme und der nächst tieferen Partie.
Die Obszönität des zugrundeliegenden Liedes – es enthält eine Anspielung auf weibliche Genitalien – macht es zu einem ungewöhnlichen Ausgangspunkt für ein geistliches Werk. Trotzdem ist die Messe in einem Chorbuch des Vatikans erhalten, wo sie offenbar innerhalb der Liturgie gesungen wurde. In der einzigen Quelle des Liedes, die den Text überliefert (sie befindet sich heute in Verona), ist das derbe Wort einfach ausgelassen, obwohl kein Zweifel darüber besteht, wie es ursprünglich lautete, da das Lied selbst in zeitgenössischen Gedichten über Tanz und Theater oft zitiert wurde. Seine Beliebtheit mag auf die ungewöhnliche Popularität des Namens ,,Baudichon“ zurückzuführen sein, der in über 80 Schreibweisen in ganz Europa auftaucht. Er leitet sich von dem altfranzösischen Wort „baud“ ab, was ,,fröhlich“ bedeutet und – passend in diesem Kontext – wahrscheinlich als Bezeichnung für einen ,,lüsternen und prahlerischen Heranwachsenden“ benutzt wurde.
Josquin entnahm dem Volkslied, das im Dreiermetrum steht und eine sehr einfache, dreiteilige Struktur aufweist, nur eine Handvoll Töne – eine schrittweise absteigende Linie – und machte mit ihnen erstaunlich wenig, außer sie zu verlängern, an wenigen Stellen zu transponieren und umzukehren. Die drei fundamentalen Töne werden fortlaufend wiederholt, beginnend entweder auf C oder G; nur einmal – im Credo – werden sie umgekehrt, so dass die Musik aufzusteigen scheint, während sie sonst stets unweigerlich abfällt. Die drei Töne werden fast ausschließlich im Tenor zitiert und treten nur sehr selten in kontrapunktische Beziehungen mit den anderen Stimmen – durchaus verwunderlich, wenn man bedenkt, was sich theoretisch mit ihnen alles anstellen ließe.
Der letzte, 157 Take ohne Pause umfassende Abschnitt des Credo ist vielleicht die bemerkenswerteste – weil überraschendste – Passage der gesamten Messe: Die Musik gerät keinen Augenblick ins Stocken.
Aufgrund ihrer Unverfänglichkeit ist es nicht einfach, die Melodie aus dem übrigen Klangmaterial herauszufiltern. Am deutlichsten ist sie vielleicht im Agnus Dei I (das mit dem Agnus III identisch ist) zu hören. Wer ihr lieber in langen Notenwerten folgen will, kann sie den gesamten letzten Teil des Credo ab „Et resurrexit“ hindurch im Tenor hören. Diese 157 Takte ohne Pause umfassende Passage ist vielleicht die bemerkenswerteste – weil überraschendste – der gesamten Messe: Die Musik gerät keinen Augenblick ins Stocken. Auch wenn der Tenor ausschließlich lange Noten singt (und auf einem hanebüchenen, lang gehalteten hohen G endet), steigern sich die umliegenden Stimmen zu einem der mitreißendsten „Amen“ des gesamten Repertoires.
© Peter Phillips / Gimell Records, deutsche Übersetzung von Viola Scheffel